Die Abtei St. Ottilien von 1945 bis 1948

Ein Kloster als jüdischer Zufluchtsort

von Redaktion

von Josef Ametsbichler

St. Ottilien/München – Es ist der 27. April 1945. Eingepfercht in Güterwaggons warten hunderte jüdische KZ-Häftlinge bei Schwabhausen (Kreis Landsberg) auf die Weiterfahrt in Richtung Konzentrationslager Dachau. Doch der Zug, abgestellt neben einem Militärtransport, gerät ins Visier amerikanischer Jagdbomber. Während die SS-Wachen flüchten, sterben etwa 150 Gefangene bei dem Angriff. Hunderte weitere bleiben verletzt zurück.

Viele von ihnen retten sich in die nahe Erzabtei St. Ottilien. Sie dient seit 1941 als Militärkrankenhaus für die Wehrmacht. Dank der einrückenden Amerikaner – zwei Tage nach dem tödlichen Bombardement befreien sie das KZ Dachau – erhalten die Zugflüchtlinge Obdach und medizinische Hilfe. Mehr als 500 frühere Lagerhäftlinge, nun sind sie Holocaust-Überlebende, kommen in dem Benediktinerkloster zusammen. Bald wird das Wehrmachts-Krankenhaus in ein Hospital für „Displaced Persons“ (DP) umgewandelt – für Menschen, die durch Krieg und Verfolgung entwurzelt und versprengt sind.

Die Entstehungsgeschichte durch den Angriff auf den Güterzug bringt es mit sich, dass von Anfang an nur Juden in St. Ottilien untergebracht sind. Von 1945 bis 1948 findet auf erzkatholischem Boden so etwas wie ein jüdisches Gemeindeleben statt. Unter anderem entsteht dort 1946 der erste hebräische Druck im Deutschland der Nachkriegszeit, ein Talmud. „Fast surrealistisch“ nennt das der 1976 in Israel geborene Berliner Fotokünstler Benyamin Reich, der den interreligiösen Kontrast in einer Fotoserie verarbeitet hat, die er nun im Jüdischen Museum in München vorstellte.

Die Installation bildet den Auftakt zu mehreren Gedenkveranstaltungen in St. Ottilien, darunter ein Symposium im Juni und ein Konzert im September. Teil des Konzepts ist auch ein Erinnerungsweg, der Besucher zu elf Stationen auf dem Klostergelände und so durch die jüdische Geschichte der Abtei führt – von dem Krankentrakt, in dem rund 400 Kinder auf die Welt kamen, über die Ruinen des Paulus-Hauses, das als Betstube diente, bis hin zum bis heute existierenden jüdischen Friedhof.

Benediktinerpater Ciryll Schäfer aus St. Ottilien räumte ein, dass die Jahre zuerst unter deutscher und bis 1948 unter amerikanischer Militärverwaltung lange als „unliebsame Unterbrechung des Klosterlebens“ gegolten hätten und in der Abteigeschichte kaum auftauchten. Erst der Kontakt mit zwei jüdischen Ärzten aus den USA, die auf dem Klostergelände geboren wurden, habe den Anstoß zu historischer Aufarbeitung geliefert. „Das waren emotionale Begegnungen“, sagt Schäfer. Immer wieder kämen nun jüdische Besucher auf der Suche nach ihren Wurzeln – oft unsicher, ob sie in dem katholischen Kloster überhaupt erwünscht seien. „Sie sind sehr willkommen“, betont der Pater.

Forscher am Lehrstuhl für jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität München fahnden nach den historischen Spuren der „jüdischen Episode“ St. Ottiliens. Sie werten derzeit vor allem jiddisch-sprachige Quellen zum jüdischen Gemeindeleben aus, die bislang wenig berücksichtigt worden seien, erklärt die Dozentin Evita Wiecki und fügt hinzu: „Es gibt noch viel Forschungsbedarf.“

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