Starnberg – „Hallo, mein Schatz“, sagt Lotta Lubkoll und krault Jonny das Fell zwischen den Ohren. Ein Büschel Haare weht durch die Luft und bleibt an Lottas Wildlederjacke hängen. Sie legt eine dicke Wolldecke mit Indianermuster auf Jonnys Rücken und zieht den Gurt fest. Ein paar Handvoll Müsli und getrocknetes Brot verstaut sie links und rechts in den Packtaschen. Lotta schnalzt mit der Zunge, Jonny trottet hinter ihr her. Die beiden machen sich auf den Weg zu einem einstündigen Spaziergang in der Nähe des Starnberger Sees. Beine vertreten – mehr ist es nicht. Denn Jonny und Lotta sind seit ihrem dreimonatigen Abenteuer über die Alpen vor zweieinhalb Jahren geübte Wanderer.
Nach dem Tod ihres Vaters 2016 ist Lotta Lubkoll klar geworden, wie kurz das Leben sein kann. „Mein Papa hat immer davon geträumt, als Rentner mit einem Zirkuswagen ums Mittelmeer zu ziehen. Das hat er leider nicht mehr geschafft“, erzählt die 27-Jährige. „Ich habe gemerkt, dass ich auch so einen Traum habe und ich habe mir gedacht: Wenn nicht jetzt, wann dann?“
Kurzerhand ließ die junge Starnbergerin ihr altes Leben samt stressigem Alltag hinter sich und kaufte sich Jonny, Schulterhöhe 1,11 Meter. Mit einem Pferdetransporter holte sie den heute 19 Jahre alten Hausesel aus seinem Berliner Zuhause ab. Lotta Lubkoll durchstöberte monatelang Eselbücher, machte kleine Wanderungen und gewöhnte Jonny an das 30-Kilo-Gepäck. „Dabei habe ich komplett vergessen, mich ans Gewichttragen zu gewöhnen“, sagt Lotta. „Am ersten Tag der Reise hatte ich höllische Rückenschmerzen.“
Zwar unterstützten die meisten Freunde und ihre Familie die Idee, mit einem Esel auf Wanderschaft zu gehen – ganz verstehen konnten sie Lottas Einfall jedoch nicht. „Was bringt dir das denn?“, hat der neue Lebensgefährte ihrer Mutter sie damals gefragt. „Eigentlich eine gute Frage. Im Nachhinein beantwortet hat es mir mein ganzes Leben gebracht. Sowohl beruflich als auch persönlich hat sich vieles geändert“, sagt Lotta Lubkoll.
Jonnys Hufe klackern auf dem Asphalt, bis er neben seiner Besitzerin an einer Kreuzung stehen bleibt. Am Ende der Straße blitzt der See durch die Bäume. Autos rasen an den beiden vorbei, bis Lotta Lubkoll den Arm seitlich ausstreckt, so die Wagen herunterbremst und mit ihrem Esel die Straße überquert. Jonny bleibt die ganze Zeit ruhig. Selbst, als ein kläffender Chihuahua auf ihn zustürmt, geht er brav weiter. Nur sein Ohrenspiel verrät, dass er von dem kleinen Hund nicht besonders begeistert ist. „Hunde ist er schon gewohnt“, sagt Lotta. „In Italien haben wir regelmäßig ein Hundebellen-Domino ausgelöst.“ Durch den Lärm seien die Einheimischen auf sie aufmerksam geworden und sie habe Gespräche am Gartenzaun gehalten oder etwas zu essen kredenzt bekommen. „Einmal ist uns eine Omi mit belegten Semmeln und Kuchen hinterhergelaufen“, erzählt Lotta.
Auch der ein oder andere Schlafplatz im Garten oder auf dem Feld wurde ihr angeboten. Während der Reise haben Lotta Lubkoll und ihr Esel meist draußen geschlafen – sie im Zelt, er auf der Koppel. „Das schönste Gefühl ist es, aufzuwachen und einen Gras mampfenden Jonny zu hören. Da weiß man, dass die Welt in Ordnung ist“, sagt Lotta. An einen Morgen erinnert sie sich besonders gerne. Jonny stand bei der Familie, bei der sie übernachtet hatten, vor der Terrassentür und wieherte laut. „Wir haben ihn dann reingelassen und er durfte mit uns am Tisch sein Müsli essen“, sagt Lotta und grinst breit. „Wie bei Pippi Langstrumpf.“
Die beiden schlendern an der Seepromenade entlang. Immer wieder bleiben Spaziergänger stehen und schauen der Frau mit ihrem Esel hinterher. Ein Mädchen ruft „Oh wie süß!“ und streichelt Jonny über das Fell. Dass ihr Freund die Aufmerksamkeit auf sich zieht, kennt Lotta Lubkoll schon von ihrer Reise. „Er ist ja eigentlich nur ein Esel und kein Zebra oder Känguru“, sagt sie. „Aber vielleicht ist es gerade das, was die Leute mögen.“ Während ihrer Wanderung über die Alpen bis nach Chioggia, ein Seehafen im italienischen Venetien, hat sie viel Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Güte erfahren. „Ich habe gedacht, dass ich jetzt drei Monate alleine mit meinem Esel unterwegs bin“, sagt sie. „Ich war ganz erstaunt, wie aufgeschlossen die Menschen sowohl in Deutschland als auch in Österreich und Italien waren.“ Mitten während einer Wanderung klingelte ihr Handy: eine E-Mail. Absender war der Sohn der Familie aus dem Valsugana-Tal im Trentino, bei der sie die Nacht verbracht hatten. „Er hat mir geschrieben, dass er seinen Papa schon lange nicht mehr so lachen gesehen hat“, sagt Lubkoll. „Das Schönste an der Reise waren die Begegnungen mit Menschen.“
Über den Starnberger See ziehen die Segel der Windsurfer. Jonny bleibt ruckartig stehen und beobachtet die bunten Flecken auf dem Wasser. Störrisch ist der kleine Esel laut seiner Besitzerin nicht – „er hat halt seinen eigenen Kopf“. Mit der Zeit hat Lotta Lubkoll gelernt, gelassener zu werden und alles ein bisschen langsamer zu machen. „Am Anfang habe ich mir immer gedacht: Jonny mach hinne!“, sagt sie. Irgendwann aber fing sie an, die Dinge zu genießen und nicht immer mit dem Kopf in der Zukunft zu sein.
Trotz der vielen positiven Erfahrungen hatte Lotta Lubkoll während der Reise auch den ein oder anderen Durchhänger – wenn es zum Beispiel zwei Tage hintereinander durchgeregnet hat. „Aber an umkehren habe ich nur ein Mal gedacht: am zweiten Tag.“ Jonny war nicht mehr vom Fleck zu bekommen, nachdem sich eine befreundete Eseltruppe, die die beiden den ersten Tag begleitete, verabschiedet hatte. „Da war einiges an Überredungskunst nötig“, sagt Lotta.
Dieses und viele weitere Erlebnisse hat die Starnbergerin täglich in einem Tagebuch festgehalten. „Ich habe schon immer gedacht, ich würde gerne ein Buch schreiben.“ Nach einem Zeitungsinterview war es dann so weit, mehrere Verlage schrieben sie an und wollten ihre Geschichte drucken. „Das ist ein wahr gewordener Kindheitstraum“, sagt Lotta.
Auf einer Wiese in der Nähe des Stalls wirft Lotta Lubkoll den Strick über Jonnys Hals und lässt ihn grasen. „Ich kann mir kein Leben mehr ohne Jonny vorstellen“, sagt sie und beobachtet den Esel, während er sich die saftigsten Halme raussucht. „Ich wusste nicht, dass man so eine intensive Beziehung zu einem Tier aufbauen kann. Er gehört mittlerweile zur Familie.“ Ob sie, wenn Jonny einmal nicht mehr bei ihr ist, wieder einen Esel möchte, weiß Lotta noch nicht. „Aktuell ist Jonny für mich der Einzige. Ich hoffe natürlich, dass er noch mindestens 20 Jahre bei mir bleibt.“
Zusammen spazieren die beiden auf einem Feldweg zurück zum Stall. Dort wohnt nicht nur Jonny, sondern seit zwei Jahren auch seine Freundin Lotta. Ihr neuer Arbeitsplatz als Erlebnispädagogin, den sie gegen ihren alten Bürojob getauscht hat, ist um die Ecke. Nebenbei ist die 27-Jährige noch Schauspielerin. Drei Jahre war sie auf der Schauspielschule, leben kann sie von der Kunst im Moment allerdings nicht.
Während Lotta Lubkoll in den Hof einbiegt, schweift ihr Blick nach links auf einen blauen Reisebus. Ihr Reisebus. Nach dem Abenteuer in den Alpen ist sie mit Jonny, dem sie kurzerhand eine Box in den Van gebaut hat, diesen Winter nach Spanien und Portugal gefahren. „Dort habe ich genug Dinge für ein zweites Buch erlebt.“
Wandern, Glück und lange Ohren
Lotta Lubkolls Buch ist im Piper-Verlag erschienen, 287 Seiten, 17 Euro. ISBN: 978-3-89029-539-8