NATALIAS NEUANFANG

Ein Abend am Kamin

von Redaktion

Heute ist der 238. Kriegstag. Die Ukraine erobert schrittweise ihre Territorien zurück. Meine Mutter erzählte, wie sie eine laute Explosion gehört habe und in den Hof gerannt sei, um zu sehen, was passiert war. Am Himmel über unserer Stadt hat die ukrainische Luftverteidigung eine russische Drohne abgeschossen. Mein Vater fluchte viel und sagte zu meiner Mutter, sie solle sofort ins Haus gehen, weil Teile vom Himmel fallen könnten. Ich bin glücklich, dass die ukrainische Armee den Feind zurückschlägt – aber auch verängstigt. Aber es gibt gute Nachrichten aus Odessa. Auch in solch schwierigen Zeiten bringen liebevolle Menschen zufällig entdeckte verletzte Tiere in den Stadtzoo. In den Stadtnachrichten stoße ich oft auf Videos, in denen gezeigt wird, wie der Direktor des Zoos gerettete Vögel und Tiere freilässt, wenn sie gesund sind. In solchen Momenten scheint es mir, dass es Hoffnung gibt und dass bald Frieden einkehren wird.

Ich lebe nun seit mehr als sieben Monaten in München und schätze jeden Tag, den ich hier in Sicherheit verbringe. Wie wunderbar ist es, wenn das Leben in einer Stadt ruhig ist und niemand das Dröhnen von Raketen oder Kampfflugzeugen kennt. Schließlich ist die ganze Generation der Ukrainer und Russen, die jetzt über 80 Jahre alt sind, eine Generation von Menschen, die während des Krieges geboren wurden und ihre letzten Jahre auch im Krieg verbringen. Es scheint mir, dass dieser Krieg alle berührt hat. Meine deutschen Bekannten und Freunde sagen oft, dass sie Angst vor dem Winter und der Kälte haben. Niemand weiß, wie stark die Heizkosten steigen werden und alle versuchen zu sparen.

Die Familie, mit der ich im selben Haus lebe, erinnerte sich daran, wie in den 1970er-Jahren in Deutschland autofreie Tage von den Behörden angeordnet wurden, weil ein Engpass bei der Erdöl-Versorgung drohte. Oft versammeln wir uns alle im Wohnzimmer und verbringen gemütliche Abende am Kamin. Von ihnen erfuhr ich, dass es seit einigen Jahren in München eine neue Brennstoffverordnung gibt, die die Nutzung von älteren Holzöfen aufgrund von Emissionen verbietet. Nur im Notfall dürften sie wieder in Betrieb genommen werden. Meine Vermieterin erinnerte sich, dass sie damals dachte, was so ein Notfall sein könnte. In diesem Jahr dürfen alte Kaminofen wieder verwendet werden – der Krieg in der Ukraine ist dieser Notfall.

In meiner Heimat ist das Heizen mit einem Kamin für jedermann erlaubt und in keiner Weise geregelt. Neben der Stadtzentralheizung hat mein Haus auch einen Kamin. Früher haben meine Eltern ihn häufiger genutzt als in den letzten Jahren. Als ich klein war, saß ich stundenlang am Feuer, beobachtete die Flammen und sah zu, wie mein Vater Feuerholz einwarf. Jetzt sitze ich in München auch am Kamin und erinnere mich an meine Kindheit. Und gleichzeitig bin ich sehr ängstlich.

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