Am morgigen Mittwoch feiert Alt-OB Christian Ude (SPD) seinen 75. Geburtstag. Im Gespräch mit unserer Zeitung gibt der Jubilar Einblicke in sein Privatleben, erzählt von Alltagsgesprächen mit Bürgern und seinem Hadern mit der SPD. Ude empfängt uns in seinem Wohnzimmer am Kaiserplatz in Schwabing. Dort, wo sein Herz schlägt. Auf seinem Hemd sind die Initialen C.U. eingenäht. In der Höhle des roten Löwen (Ude sympathisiert ja mit dem TSV 1860) lässt sich prächtig plaudern. Im nächsten Teil unseres großen Interviews lesen Sie übrigens unter anderem über Udes Begegnung mit Kardinal Ratzinger, über seine Beziehungen zum Fußball und seine Ehrenbürgerwürde auf Mykonos.
Herr Ude, während Ihrer OB-Zeit war Ihr Mitarbeiterstab bemüht, allzu frühe Termine zu vermeiden. Der Chef schlafe gern aus, hieß es da schon einmal. Kommen Sie heute früher aus dem Bett?
Nein. Eher noch später, aber mit wunderbar gutem Gewissen, weil ich noch nichts versäumt habe.
Gibt es ein festes Ritual?
Eigentlich begann der Tag zwei Jahrzehnte lang damit, dass die Katze mich geweckt hat und ich aufspringen musste, um sie zu füttern. Aber die Katze ist leider in diesem Sommer gestorben. Im Moment haben wir keine. Wir werden uns aber wieder eine zulegen, wahrscheinlich aus dem Tierheim. Jetzt mache ich als Erstes ein wirklich traumhaftes Frühstück für meine Frau und mich: griechischer Joghurt mit jeweils fünf variierenden Obstsorten und Honig. Das ist ein schöner Einstieg in den Tag.
Mit Ihnen als Spitzenkandidat erhielt die SPD 2013 bei der Landtagswahl 20,6 Prozent. Damals galt das als akzeptabel, aber nicht berauschend, heute würde es die Bayern-SPD in eine rauschhafte Stimmung versetzen. Wie konnte die Partei so tief sinken?
Die Großwetterlage ist schwieriger geworden. Aber dass die SPD von ihren Wählern des Jahres 2013 nicht einmal die Hälfte halten konnte, ist ohne eigenes Zutun nicht zu schaffen. Es liegt daran, dass man in einer der konservativsten Regionen Europas die allerprogressivste Figur abgeben wollte und dass man sich kulturell vom bisherigen Stammpublikum geradezu verabschiedet hat. Da geht es um immer mehr Worte, die man nicht mehr aussprechen darf, und um immer mehr Sternchen, die man machen muss. Aber auch um das Milieu, in dem man sich bewegt. Ich bin jeden Sommer bei dutzenden Kleingartenanlagen gewesen, bei Trachtlern und Schützen, bin durch die Polizeiinspektionen und Feuerwachen gezogen, war bei Rentnerehrungen und Altenservice-Zentren, weil die alle auch zum sozialdemokratischen Wählerpotenzial gehören. Die SPD befindet sich nicht mehr im Austausch mit der früheren Stammwählerschaft.
Immerhin gibt es nun wieder einen SPD-Kanzler. Haben Sie damit gerechnet?
Ich habe Olaf Scholz immer für ein politisches Talent gehalten, auch in dem Jahr, in dem das in der SPD regelrecht verboten war. Aber es hat mich positiv überrascht, dass es gelungen ist, aus der Schwäche der Union heraus am Ende der Periode Merkel so schnell Punkte zu sammeln.
Wie macht sich Scholz als Kanzler?
Ich bin – übrigens genauso wie die Bevölkerung – mit ihm sehr viel zufriedener als viele Medien.
Mit guten Ratschlägen zur aktuellen Münchner Kommunalpolitik halten Sie sich eher zurück. Fällt das manchmal schwer?
Es ist der Veränderung der Verhältnisse geschuldet. Ich hatte nie eine Pandemiezeit durchzustehen gehabt und nie mit einen Krieg, der auf ganz Europa überspringen könnte, nie eine vergleichbare Energiekrise oder eine Inflation dieses Ausmaßes. Da soll man nicht den Schlaumeier auf der Besuchertribüne spielen. In der Hochhaus-Frage wundere ich mich allerdings, dass vor gerade einmal 16 Jahren einzelne Türme jenseits des Mittleren Rings ein Problem darstellten, das damals die SPD regelrecht gespalten hat, während heute wesentlich mächtigere Ungetüme ohne jede inhaltliche Diskussion sogar massiert auftreten dürfen – und das ganz nah am Hauptbahnhof, im Herzen der Stadt.
Haben Sie angesichts dieser Herausforderungen Mitleid mit Ihrem Nachfolger?
Ja. Mit allen, die heute in der Verantwortung stehen. Ich bin ja ein Nachkriegskind. Meine Generation hat das ganze Leben privilegiert verbracht. Es war zwar anfangs karg, aber man hatte immer die Gewissheit: Nächstes Jahr ist das alles ein bisserl besser. Dieses Lebensgefühl gibt es nicht mehr. Leute fragen sich heute, ob sie im Winter frieren müssen, wie lange sie sich Lebensmittel auch anspruchsvollerer Art leisten können, ob sie die Miete und vor allem die Nebenkosten auch morgen noch zahlen können. Das sind existenzielle Sorgen, und dazu kommen die noch grundlegenderen Fragen wie Pandemie und Krieg. All das hat es bis zum Ende meiner Amtszeit nicht gegeben.
Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen der rot-grünen Regierung unter Ihrer Amtszeit und der aktuellen? Abgesehen davon, dass jetzt die Grünen die stärkere Partei sind?
Letzteres ist aber ein wesentlicher Punkt. Die SPD ist Nummer drei in München. Nummer drei! Und sie hat die Stimmverluste, die dahin geführt haben, nie offen diskutiert, nie als großes Problem gesehen. Zuerst ist die CSU vorbeimarschiert, dann hat man halt mit der CSU koaliert. Und dann sind die Grünen vorbeimarschiert, dann war es wieder möglich, mit den Grünen zu koalieren. Es ist ein gravierender Wandel, dass der Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie ein derartiges Ausmaß angenommen hat.
Wenn der Rentner Christian Ude heute durch München spaziert, wird er dann noch häufig von Passanten angesprochen und aufgehalten?
Das hat sich eher verstärkt, weil die Leute jetzt davon ausgehen, dass ich Zeit habe (lacht) – während sie früher noch mit einem respektvollen „Grüß Gott, Herr Oberbürgermeister“ vorbeigegangen sind. Jetzt heißt es: „Was sagen denn Sie zum Lauterbach? Und finden Sie, dass der Scholz es gut macht?“ Die Leute haben vor allem Fragen, nicht Vorwürfe.
Was bekommen Sie am häufigsten zu hören?
2020 und 2021 ging es fast immer um die Pandemie und die Maßnahmen dagegen. Seit dem 24. Februar ist natürlich der Ukraine-Krieg Hauptthema. Manche sind noch pazifistisch eingestellt und ärgern sich über die Olivgrünen, die plötzlich so tun, als hätten sie mit der Bundeswehr und der Rüstungsindustrie nur Schwierigkeiten gehabt, weil dort nicht genug Waffen produziert werden. Am schlimmsten trifft die Kritik Gerhard Schröder. Aber Fehleinschätzungen in der Russland-Politik waren weit verbreitet. Ich gebe offen zu, dass ich Nord Stream 2 bis Anfang dieses Jahres auch befürwortet habe. Aber wie die Christen-Union sich aus der Geschichte und aus der Verantwortung herauslügt, ist atemberaubend.
Kann es auch mal lästig werden, wenn Sie angesprochen werden?
Nein, jetzt weniger denn je, weil ich mich gerne austausche. Das sind sehr angenehme Gespräche. Das war früher aggressiver, als ich für alle Entscheidungen im Stadtrat allein verantwortlich gemacht wurde. Und für jeden Verwaltungsakt, vom Knöllchen der Polizei bis zur Versagung von Genehmigungen.
Das Gespräch führten Klaus Vick und Peter T. Schmidt