Der Krieg in der Ukraine dauert schon unerträglich lange. Ich schäme mich zuzugeben, dass ich in letzter Zeit versuche, keine Nachrichten über die Ukraine zu lesen. Mich interessiert nur, ob es meinen Eltern und Freunden gut geht. Für die restlichen Nachrichten fehlen mir die Nerven. Ich wünsche mir mehr freudige Ereignisse, die Hoffnung machen. Und sie passieren mir oft. Kürzlich rief eine Zeitungsleserin in der Redaktion an. Sie hat aus meiner Kolumne erfahren, dass ich mir von meiner Freundin ein Dirndl ausgeliehen hatte, um aufs Oktoberfest zu gehen. Sie wollte mir ihr Dirndl schenken. Ich dankte der Leserin für ihre Großzügigkeit. Sie hat mich zu sich nach Seehausen am Staffelsee eingeladen.
Heidi Bäuml ist 81 Jahre alt. Sie und ihre Schwester beherbergen drei ukrainische Familien, die wie ich im März vor dem Krieg geflohen waren. Heidi und ihre Freundin organisierten ein Essen für uns alle. Es gab Bratwürstl mit Sauerkraut und Bratkartoffeln, Spanferkelbraten mit Dunkelbiersoße und Kartoffelknödel. Ich habe mich sehr gefreut, traditionelle bayerische Gerichte probieren zu können. Heidi erzählte viele interessante Geschichten. Als sie und ihre beiden Schwestern Kinder waren, kümmerte sich ein Kindermädchen aus der Ukraine namens Walla um sie. Heidi erinnerte sich, wie ihre Eltern Walla in den Kriegsmonaten im Keller versteckten, um sie zu beschützen. Die ganze Familie liebte Walla und versuchte lange, sie zu kontaktieren, nachdem sie versucht hatte, in ihre Heimat zu fliehen.
Später, beim Kaffee auf Heidis Terrasse, habe ich meinen bayerischen Wortschatz um folgende Wörter ergänzt: stibitzen, Gaudi, a hoibe Bier. Wir hatten einen „griabigen“ Nachmittag. Heidi setzte sich ans Steuer ihres Autos und zeigte uns die malerischen Gassen, die Uferstraße und den See. Traditionen werden in ihrem Dorf hochgehalten. Neubauten müssen dem bayerischen Stil entsprechen, erklärte sie. Während dieser Tour fühlte ich Frieden. Heidi nennt ihr Dorf Paradies. Sie sprach mit viel Herz darüber und zeigte uns ein Buch über die Geschichte der Gemeinde, das sie geschrieben hat.
Heidi und ihre Nachbarin haben mir zwei Dirndl geschenkt. Vom ersten Tag in München an hatte ich ein besonderes Interesse an bayerischen Traditionen und der bairischen Sprache. Ich habe mir seitdem ein klassisches, authentisches Dirndl gewünscht. „Ein echtes Dirndl darf im Oberteil keinen Reißverschluss haben, es wird geknüpft“, betonte Heidi. Jetzt habe ich sogar zwei Dirndl. Man kann sich vorstellen, wie sehr ich mich über dieses Geschenk gefreut habe. Als Heidi mich am Abend verabschiedete, sah ich, dass sie die ganze Zeit barfuß am Tisch gesessen hatte. Ich fragte sie, ob ihr kalt sei und warum sie keine Schuhe trage. „Ich bin ein Kriegskind, ich bin meine ganze Kindheit so rumgelaufen, mir ist nicht kalt“, sagt sie. Diesen Tag werde ich nie vergessen.