Der Herbst vergeht in der Ukraine unruhig. Kürzlich wurde ein Hotelkomplex in Odessa durch einen Raketenangriff zerstört. Das Hotel war viele Jahre lang nicht in Betrieb, blieb aber in gewisser Weise ein Symbol der Stadt. Bei einem Raketenangriff auf ein Café im ost-ukrainischen Gebiet Charkiw kamen 52 Menschen ums Leben. Das bedeutet, dass in jeder Familie des kleinen Dorfes zwei bis drei Menschen starben. Auf den Straßen werden Granaten gefunden, ständig gehen die Sirenen. Trotz alledem ist es ein sehr eigenartiger und paradoxer Krieg. Viele Ukrainer sind in andere Länder geflohen und leben dort jetzt, machen aber Urlaub in der Ukraine. Obwohl noch immer Krieg ist. Ich glaube, das kommt vielen Europäern seltsam vor.
Letzte Woche nahm ich zum ersten Mal an einer Demonstration teil, die nicht die Ukraine betraf. 35 000 Menschen demonstrierten auf dem Münchner Odeonsplatz gegen Rechts. Die Atmosphäre hat mir sehr gut gefallen. Auf der Bühne traten viele prominente Persönlichkeiten aus Politik, Musik und Sport auf. Mit angehaltenem Atem hörte ich der Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, Charlotte Knobloch, der Kabarettistin Luise Kinseher und Basketball-Weltmeister Isaac Bonga zu. Besonders gut gefielen mir die bayerischen Lieder, die gespielt wurden. Leider verlaufen solche Demonstrationen in der Ukraine nicht so friedlich. In meiner Heimat würde ich nie zu einer Demonstration gehen, weil ich mich dort nicht sicher fühlen würde.
Während der Demo wurde mir plötzlich klar, dass neben mir ein junger Mann stand, der mich vor anderthalb Jahren von der Grenze abgeholt hatte und mir half, nach Deutschland zu kommen. Anfang März 2022 rief Jonah Werner, ein Student aus Rosenheim, seinen Freund Fabian an und sagte, er könne nicht tatenlos zusehen und wolle den Ukrainern helfen. Wenige Tage später fuhren sie zur ukrainisch-slowakischen Grenze. Damals wusste niemand, wie der Krieg weitergehen würde, und Jonas war einer dieser Helden, der andere rettete. Seit damals blieben wir in Kontakt, trafen uns aber nie wieder. Und nun, anderthalb Jahre später, standen wir bei der Demo zufällig nebeneinander. Ich habe mich sehr gefreut, ihn wiederzusehen. Er war inzwischen schon zehnmal an der Grenze zur Ukraine, um Hilfe vor Ort zu leisten. Außerdem organisiere er bundesweite Kindersporttage für geflüchtete Kinder. „Das ist alles nur passiert, weil ich dich damals an der Grenze abgeholt habe“, sagte er. „Es ist passiert, weil du ein großartiger Mensch bist“, antwortete ich.