Mit Biss in den neuen Job

von Redaktion

Nach einer traumatischen Flucht über das Mittelmeer hat Husnain Akbar einen besonderen Weg gewählt, um Arbeit zu finden. Als „Biss“-Verkäufer legte er jeden Tag einen Flugzettel in die Obdachlosen-Zeitschrift. Mit Erfolg – heute arbeitet der Mann im Rollstuhl als Goldschmied in Pasing.

„Mir war sofort klar, den will ich haben“: Goldschmiedin Anja Kuse mit Husnain Akbar.

Husnain Akbar am Arbeitsplatz im Schmuckgeschäft von Anja Kuse. © Böllert (2)

München – Die Geschichte von Husnain Akbar und Anja Kuse erinnert an die lange Reise einer Flaschenpost mit dem besten aller „Happy Ends“. Drei Jahre lang hat Hassan, wie Anja Kuse ihn vertraulich nennt, seine Nachricht verschickt, hartnäckig und unbeirrbar. Der Pakistani warf den tausendfach kopierten Zettel zwar nicht in einer Flasche ins Meer. Vielmehr legte er seine Botschaft Tag für Tag der Straßenzeitung „Biss“ bei, die er in München und Umgebung verkaufte. 400 Stück im Monat. 400 Chancen, dass jemand seine Bitte um Arbeit, am liebsten als Goldschmied, lesen und erfüllen würde.

„Eine Freundin hat diesen Flyer in einer „Biss“ gefunden, die Hassan ihr vor dem REWE in Herrsching verkauft hat“, erinnert sich die Schmuckdesignerin. „Sie sagte, er sitze im Rollstuhl und sei ein Sonnenschein, ob ich ihn nicht kennenlernen wolle? Nach dieser Empfehlung konnte ich natürlich nicht anders, als ihn einzuladen“, sagt die 54-Jährige. Nur zwei Tage, nachdem sie ihr Schmuckgeschäft in München-Pasing eröffnet hatte, trafen sich die zwei Goldschmiede zum ersten Mal. „Mir war sofort klar, den will ich haben“, sagt Kuse. Ihre Hoffnung, dies könne sowohl für den geflüchteten Mann als auch für sie eine Chance sein, habe sich erfüllt. „Doppelt und dreifach!“

Bis Husnain Akbar im November 2018 in Kuses Laden endlich wie in einem sicheren Hafen anlegen konnte, musste der heute 36-Jährige schweres Leid erfahren. Der schlimmste Moment seiner Lebensgeschichte dauerte 17 Stunden und lässt den Pakistani bis heute nicht schlafen. 17 Stunden dauerte die Überfahrt von Libyen bis vor die Küste Italiens, die er mit 300 Flüchtlingen in einem klapprigen Boot überlebte, das für maximal 100 Passagiere ausgelegt gewesen sei. „Das andere Boot, das mit uns gestartet ist, ist gesunken. Ich habe gesehen, wie 250 Menschen ertrunken sind“, sagt Husnain leise. Noch schwerer fällt es ihm, davon zu sprechen, was zuvor geschehen war. „Eine Familie mit zwei Kindern weigerte sich einzusteigen. Die Warnung des Schleppers, er würde sie töten, nahmen sie nicht ernst. Er erschoss alle vier.“

Dass Akbar 2015 das bürgerkriegsgebeutelte Libyen verlassen würde, behielt er für sich, informierte seine Eltern in Pakistan erst unmittelbar vor der Überfahrt. „Ich habe mich von ihnen verabschiedet, denn tief in mir wusste ich, dass ich nicht überleben würde, und ein Teil von mir ist damals auch gestorben“, erinnert sich Husnain. Als Mann mit Behinderung sei es jedoch in Pakistan nicht möglich, Arbeit zu finden, erklärt er, und damit gebe es weder Respekt noch die Chance auf ein würdevolles Leben.

In Libyen konnte der Goldschmied mit den gelähmten Beinen ein Geschäft führen. Bis er bei einem Raubüberfall in seinem Laden niedergestochen wurde und ihm wenig später Angreifer auf der Straße mit einem Gewehrkolben fast den Schädel einschlugen. Da war ihm klar: „Als Rollstuhlfahrer bin ich in einem Land nicht sicher, in dem Gewalt an der Tagesordnung ist. Ich verkaufte meinen Kühlschrank, mein TV und eine letzte Arbeitsmaschine, die mir geblieben war.“ 1300 Dollar kamen so zusammen. Die steckte sich der Schlepper ein und nahm dafür Akbar nicht nur seinen Pass, sondern auch seinen Rollstuhl ab.

Ein deutsches Schiff rettete Husnain Akbar aus der Seenot. Von Italien gelangte der Flüchtling nach Deutschland, in einem Taxi, das ein Jugendfreund bezahlte. Auf einer deutschen Autobahn griff die Polizei den Mann ohne Papiere schließlich auf und schickte ihn mit dem Zug in ein Ankerzentrum nach München. Drei Wochen später landete er in einem Flüchtlingsheim in Germering im Kreis Fürstenfeldbruck. Dort hielten das Trauma der Vergangenheit und die Sorgen um die Zukunft den Mann jahrelang wach. Die aus humanitären Gründen gewährte Aufenthaltsgenehmigung musste jährlich erneuert werden. Würde er bleiben dürfen?

„Nur essen und schlafen. Das konnte ich nicht. Ich musste arbeiten“, sagt Husnain. Irgendwann verhalf ihm eine Flüchtlingshelferin zu dem Job bei der „Biss“, der ihn letztendlich zu Anja Kuse führte. Heute erfüllt der Pakistani, für den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Abschiebeverbot festgestellt hat, mit einer eigenen Wohnung und einer sozialversicherungspflichtigen Arbeit, die seinen Lebensunterhalt sichert, fast alle Erfordernisse für eine Niederlassungserlaubnis, mit der er dauerhaft in Deutschland leben dürfte. Nur der Deutschkurs B1 fehlt ihm noch. Er suche gerade einen im Internet, um weiter möglichst viel arbeiten zu können – denn einen Großteil seines Gehalts schickt Husnain an seine alten Eltern nach Pakistan. Und an seine Frau. Fatima. Die Tochter eines Cousins, die seit seinem Weggang aus der Heimatstadt Gujrat nach Libyen vor neun Jahren darauf hofft, mit ihm leben zu können.

2018 hat das Paar per Videoschalte geheiratet, sich 2019 in Pakistan das erste Mal wieder gesehen. Vor ein paar Wochen war Hassan erneut zu Besuch. Dass er Fatima noch nicht mitbringen konnte, scheiterte an Verzögerungen bei der Ausstellung ihres Visums. „Doch ich glaube fest, dass Fatima bald kommen kann, dann möchte ich mit ihr Kinder haben und ein glückliches Leben führen“, sagt Husnain, der das Träumen nie verlernt hat.

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