Natalia am Strand in den Flitterwochen.
Natalia Aleksieieva ist im März 2022 aus Odessa nach München geflüchtet. Sie hat hier eine Wohnung und eine Arbeitsstelle gefunden – und ihre große Liebe. Seit ihrer Heirat heißt sie Natalia Mochalskyy. In ihrer Kolumne berichtet die 30-Jährige über ihr neues Leben in Bayern und über die Nachrichten aus ihrer ukrainischen Heimat. Ihre Texte schreibt sie auf Deutsch.
Vor fast dreieinhalb Jahren begann der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. In den ersten Tagen war es unvorstellbar, dass tatsächlich Raketen auf uns abgefeuert wurden. Ich erlebte einen echten Bombenangriff – mit Druckwelle, klirrendem Glas und Sirenengeheul. Heute sehe ich: Der Krieg dauert schon viel länger. Die Angriffe hören nicht auf, Menschen sterben. Vor einigen Wochen wurde meine Heimatstadt Bilhorod-Dnistrowskyj bei Odessa getroffen. Die Stadt wurde im 4. Jahrhundert vor Christus gegründet und ist bekannt für ihre Festung. Russische Raketen schlugen in der Stadtschule ein. Drei Menschen starben: die Schulleiterin, der Hausmeister und eine Mitarbeiterin der Schulküche. Am Vortag hatte dort noch eine Abschlussfeier stattgefunden. Ich war erschüttert – die Schule liegt nur zwei Kilometer von meinem Elternhaus entfernt. Meine beste Freundin war einst dort. Als Kinder spielten wir oft auf dem Pausenhof. Jetzt sind nur noch Trümmer übrig. Im Moment des Einschlags rieselte Bausand von der Decke auf die Köpfe der Eltern. Ohne zu zögern, rannten sie los, um nachzusehen, ob ihre Freunde im nahen zweistöckigen Wohnhaus noch am Leben waren. Als ich sagte, man müsse sich verstecken, wenn Raketen fliegen, antwortete mein Vater: „Wo denn? Es gibt nur die Grube in der Garage – und wenn die einstürzt, findet uns niemand.“ Ich erinnere mich an so viele glückliche Kindheitsmomente, doch nun sehe ich, wie meine Stadt langsam zerstört wird. Es ist gut, dass man Erinnerungen nicht mit Raketen zerstören kann.
Nach der Trauung im Garchinger Standesamt flogen mein Mann und ich für unsere Flitterwochen auf die Malediven. Fast ein Jahr lang habe ich Geld für diese Reise gespart. Ich lernte das Inselleben 50 Kilometer vom Äquator entfernt kennen, sah, wie Korallen künstlich auf dem Meeresboden gezüchtet werden, und bewunderte den unglaublich reichen Sternenhimmel. Während ich im Urlaub war, erhielt ich beruflich eine lang ersehnte Beförderung in eine Führungsposition.
Nach unserer Rückkehr fand ich im Briefkasten eine Karte von einer Zeitungsleserin, die mir zu meiner Hochzeit gratulierte. „Ich lese deine Kolumne seit Jahren mit großer Anteilnahme und Freude“, schrieb sie. Als ich das las, war ich tief gerührt. Ich bin dankbar, in Deutschland leben zu dürfen, und glücklich, dass ich hier ein neues Leben begonnen habe. Ich habe geheiratet, meinen Platz im Leben gefunden und Menschen an meiner Seite, die mich unterstützen und sich für meinen Weg interessieren. Und doch gibt es etwas, das mein Herz jeden Tag schwer macht: Die ganze Welt sieht zu, wie die Ukraine bombardiert wird, wie Menschen sterben – und niemand scheint in der Lage zu sein, diesen Krieg zu beenden. Ich habe Angst. Um meine Eltern. Um meine Freunde. Um mein Land.