Bad Tölz – Er war auf allen Gipfeln. Jochberg, Latschenkopf, Herzogstand. 1567, 1712, 1731 Meter. Früher. Heute ist das anders. Herr F. (80)* rennt zwar immer noch viel „umanand“, sagt er, aber nicht mehr in die Berge. Sondern vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, zum Pflegebett seiner Frau. Seine Welt ist kleiner geworden.
„Grüß Gott, Herr F.“, sagt Krankenpfleger Guxim Bellaqa (24). Er tritt ins Wohnzimmer, fragt, wie es heute geht, wie die Nacht war. „Ganz guad“. Nur einmal musste Herr F. aufstehen, um nach seiner Frau zu sehen. Meistens macht er das öfter. Er schaut, ob die Windel voll ist, ob die Geräte piepen, ob sie schläft. Am Tag lässt er sie nicht aus den Augen. Der Gang auf die Toilette gleicht einem Aufstieg auf den Gipfel der Benediktenwand. Seine Frau schafft ihn nicht mehr. Die Maße ihrer Welt: 90 x 195 x 20 Zentimeter. Auf ihrer Matratze spielt sich ihr Leben ab. Ihre dünnen Beinchen winkelt sie an. Sie trägt Windel und ein Hemd. Ein Kasten hängt an ihrem Bett, die Kabel sind mit der Matratze verbunden. Für den Wechseldruck, damit sie nicht wundliegt.
Ein Glück, dass Herr F. noch so fit ist, sagt Guxim Bellaqa. Frau F. ist heute die vierte Patientin auf seiner Tour durch den Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen. Eine von zwölf. Seit sechs Uhr morgens ist er unterwegs, 30 Minuten sind pro Patient vorgesehen. Den Plan hat er in seinem Handy gespeichert. Wenn es mal länger dauert, dann ist es so, sagt er. „Ich pflege so, wie ich selber gepflegt werden möchte.“ Vorsichtig lagert er die Seniorin um, von links nach rechts. Zeit für eine frische Windel. Er kontrolliert die Haut genau. „Schaut gut aus“, sagt er zufrieden. Frau F. sagt nichts. Sie drückt Guxim Bellaqas Hand. „Da ist ja richtig Kraft. Hat ihr Mann heimlich mit Ihnen geübt?“ Frau F. lacht. Zum ersten Mal seit der Pfleger da ist. Ihr Mann steht daneben und schmunzelt. Auf dem Herd nebenan köchelt eine Suppe. Der Pfleger cremt die Patientin ein. Urin, Zwiebeln, Pflegelotion – der Geruch des Alters. Für Guxim Bellaqa gehört er zum Alltag. Er dokumentiert genau, was er heute gemacht hat. Wickeln, Lagern, Körperpflege. Für die Krankenkasse.
Bellaqa arbeitet seit drei Jahren bei Volker Otto, einem ambulanten Pflegedienst in Bad Tölz. Er hat als Krankenpfleger in der Klinik gelernt, sich dann zum Pflegedienstleiter weitergebildet. Er trägt Verantwortung. Im Betrieb ist er für die Organisation der Schichten zuständig. Eigentlich wollte er Medizin studieren. Hat sich dagegen entschieden. An der ambulanten Pflege schätzt er, dass er flexibel ist. Pro Besuch betreut er einen Patienten. „Die 30 Minuten hab ich in der Klinik nicht“, sagt er. Manchmal müssten zwei Schwestern eine ganze Station betreuen.
Mehr als zwei Millionen Menschen werden in Deutschland zuhause versorgt. Von mehr als 350 000 ambulanten Pflegekräften. Guxim Bellaqa ist einer von ihnen. Er hilft seinen Patienten beim Duschen, Anziehen, Tablettennehmen. Alleine können sie das nicht mehr. Darum brauchen sie Hilfe von außen. Deutschland ist ein Land der Alten, die immer älter werden. Und pflegebedürftiger. Doch die Pfleger fehlen. Dem Statistischen Bundesamt und dem Bundesinstitut für Berufsbildung zufolge könnte es – laut einer Studie aus dem Jahr 2010 – bis 2025 zu einer Lücke von rund 140 000 bis 200 000 ausgebildeten Pflegekräften kommen. Ersatz kommt aus dem Ausland – aus Osteuropa.
Bellaqa ist Albaner. Seit 2003 lebt er in Bayern. Um die 2600 Euro brutto verdienen Fachkräfte in der Altenpflege laut dem Bundesgesundheitsministerium im Schnitt. Zwischen den Bundesländern gibt es jedoch erhebliche Unterschiede. In Bayern sind es um die 2900 Euro, in Sachsen-Anhalt nicht einmal 2000 Euro. Vollzeit. Für einen Job, der es in sich hat. Wenn nur einer in der Familie verdient, kann das eng werden.
Guxim Bellaqa selbst hat zwei kleine Kinder. Deutsch spricht er sehr gut, er kann auch etwas Bairisch. „Ich versteh alles“, sagt er und lacht. Dass er kein „Hiesiger“ ist, wie es in Oberbayern so schön heißt, merken die Patienten sofort. Vor allem am Akzent. Berührungsängste gibt’s, sagt Bellaqa. Besonders am Anfang. Er ist halt keine gestandene Krankenschwester, sondern ein junger Mann. Und dann auch noch Ausländer. Doch die Berührungsängste verschwinden. Die Scham auch. Beim Wickeln wird sie immer kleiner. Beim Duschen fließt sie den Abfluss hinunter. Bald ist der Besuch des Pflegers Alltag. Für manche Patienten der einzige Kontakt zur Außenwelt. „Wir sind das Highlight des Tages“, sagt der 24-Jährige. Auch für so manchen Angehörigen.
In der Region pflegen beinahe 50 Prozent ihre Väter, Mütter und Ehepartner selbst, sagt Bellaqa. Im Kosovo sind es noch mehr. „Die meisten werden zuhause gepflegt.“ Wenn es geht, würde er es bei seinen Eltern auch so machen. Wenn die Gesundheit mitspielt. Vor allem der Rücken. Hochheben, umlagern, bücken. Das geht ganz schön ins Kreuz. Der Pfleger hat besondere Techniken.
Wenn er Frau S. Kompressionsstrümpfe anzieht, sitzt er auf einem Hocker. „Noch a Stückerl zu mir rüber“, sagt er. Während Bellaqa die Strümpfe hochzieht, erzählt ihm die 72-Jährige, dass sie heute zum Arzt fährt. „Mit Ihrem Sohn?“, will er wissen. „Na, mei Bekannte holt mich.“ Bellaqas Patienten erzählen ihm von ihren Töchtern und Söhnen. Sie teilen ihre Ängste. Lachen. Weinen. Nicht nur der Körper ist beim Wickeln nackt. Auch die Seele.
Der Pfleger weiß zum Beispiel, dass sein erster Patient an diesem Tag früher Eishockeyspieler war. Heute kann er kaum noch alleine gehen. Der 70-Jährige sitzt auf einem Hocker in seiner Duschkabine. Er spricht wenig. Nur wenn es um Sport geht, strahlen seine Augen. Bellaqa dreht den Duschhahn auf. Wartet, bis das Wasser warm ist. „Passt’s so?“, fragt der Pfleger. Passt.
Manchmal begleitet Guxim Bellaqa Patienten bis ganz zum Schluss. Dann geht er auch auf die Beerdigung. „Wir sind Teil des letzten Lebensabschnitts.“ Loslassen müssen nicht nur die Angehörigen, sondern auch die Pfleger. Das ist nicht immer einfach. „Das gehört dazu“, sagt er. Mitfühlen ist wichtig. Abgrenzung ist wichtig. „Sonst macht man den Job nicht lange.“ Wenn Patienten weinen oder verzweifeln, hört er ihnen zu. Wenn sie von früher erzählen, fragt er nach. Wie es denn genau war. Damals. Da oben auf dem Gipfel.
*Die Namen und das Alter der Patienten wurden aus datenschutzrechtlichen Gründen anonymisiert.