Aschau – Es ist einer der seltenen Tage in diesem Sommer, an dem es von morgens bis abends regnet. Traumhafter Blick über den Chiemsee, die Kampenwand vor blau-weißem Himmel: Fehlanzeige. Stattdessen Feuchtigkeit, die von allen Seiten in die Kleidung kriecht. Nebel, der die Kühe auf den Wiesen verschluckt. Wolken, in denen die Bergwelt verschwindet. „Mei, so Tage gibt’s halt aa amoi“, tröstet Sennerin Ingrid Scheck die acht Amateur-Almerer, die den Weg zu ihr auf sich genommen haben. Die gekommen sind auf die Schlechtenbergalm im Chiemgau für einen zweitägigen Crash-Kurs im Melken, Schwenden, Kasen.
Es sind Menschen mit den unterschiedlichsten Berufen, aus den verschiedensten Regionen Bayerns, die 150 Euro in die Hand genommen haben, um reinzuschnuppern ins Almleben. Unter ihnen Helmut Bayreuther, bis aus Hof an der Saale ist der Elektrotechniker im Ruhestand angereist. Eine Zahnärztin ist dabei und eine Betriebsrätin. Fünf Frauen und drei Männer, die vom Leben im Einklang mit der Natur fasziniert sind. Und an diesem Tag gehört zur Natur Sprühregen.
Zwar gibt es erst eine Einführung in der warmen Hütte. Doch irgendwann klatscht Maria Anner in die Hände. Die 25-Jährige ist Almerin, es ist ihr achter Sommer auf der Michl-Alm, die direkt neben der Schlechtenbergalm liegt. „Raus jetzt mit eich, des schadt eich ned“, treibt sie die Teilnehmer an. Auf der Alm duzt man sich, und ist nicht zimperlich im Ton. Mit Gummistiefeln macht sich die Gruppe auf zum „Koimer“ zählen. Die Sennerin muss jeden Tag schauen, ob die 27 Jungtiere, wie es hochdeutsch heißt, wohlauf sind. Bei dem Wetter kann leicht ein Tier abstürzen und sich verletzen. 63 Viecher sind oben auf der Schlechtenbergalm im Kampenwandgebiet, die drei Landwirte als Gemeinschaftsalm bewirtschaften.
„Das war eine Erfahrung“, wird Stephan aus Ebersberg über das Kühezählen später sagen. Für ihn eine Grenzerfahrung, er verliert die anderen im Nebel und kehrt alleine zur Hütte zurück.
„Viele kommen an ihre Grenzen“, sagt Ingrid Scheck. Die 44-Jährige weiß, dass die Sennerarbeit nicht nur Zuckerschlecken ist. Seit 27 Jahren ist sie jeden Sommer oben auf der Schlechtenbergalm. Landwirtschaft ist ihr Leben, unten in Aschau führt sie mit ihrem Mann einen Betrieb mit 25 Tieren. Sie hat sofort zugesagt, als das Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Holzkirchen eine Sennerin suchte, die Anwärtern den Almalltag zeigt. Seit fünf Jahren führt sie nun mit Maria Anner ins echte Almleben ein. Sie hat viel gesehen. Von Rechtsanwälten über Krankenschwestern oder Tierärzten war alles dabei. „Aa Leit, die no nie mehra wie 20 Meter auf a Kuah dro warn.“
Doch mit Vorurteilen über die „Stoderer“ haben die Sennerinnen aufgeräumt. „Da bist oft überrascht, wie g’schickt die san“, sagt Maria. Gut erinnert sie sich an eine Berliner Lehrerin. Die ist Wiederholungstäterin und jetzt jeden Sommer auf der Alm. „Die meisten packt’s.“
Die Arbeit auf der Alm ist „in“. Beim Almwirtschaftlichen Verein Oberbayern, ansässig in Holzkirchen, bewerben sich viele um einen Platz als Senner auf Zeit. „Grundkenntnisse im Umgang mit Rindern sollte man mitbringen“, sagt Susanne Krapfl vom Fachzentrum Almwirtschaft, oder zumindest eben an einem Almschnupperkurs teilnehmen. Die Plätze sind jedes Jahr schnell weg – ganz ohne Werbung. „Wer will, findet uns im Internet“, sagt sie.
Arbeit gibt es auf der Alm von frühmorgens bis die Sonne untergeht. Als die Teilnehmer, bepackt mit schweren Metallpfählen, durch sumpfige Weiden gut 200 Höhenmeter erklimmen müssen, ist leises Stöhnen zu hören. „Ois macht ned Spaß“, sagt Maria. Doch die Strapazen sind vergessen, als Ingrid den Käse herumreicht, den die Teilnehmer am Vortag selbst hergestellt haben.
Käse machen, Kälbchen streicheln und den Sonnenuntergang genießen: Oft sind es romantische Vorstellungen, die die Menschen auf die Almen locken. Doch es gibt auch undankbare Aufgaben. Schwenden ist so eine. Darunter versteht man das Säubern der Almflächen von unerwünschten Gehölzen. „Wie Unkraut jäten im Garten“, sagt Ingrid, bevor es mit Heckenscheren auf die Weide geht. Beschäftigt mit verirrten Ahornbäumchen oder Farngewächsen, kehrt meditative Ruhe ein. Die Entschleunigung, von der gestresste Großstädter träumen. „Das ist schöner als Zähne ziehen“, sagt Sabine, Zahnärztin aus Germering, plötzlich in die Stille, als sie den Kampf gegen eine Wurzel gewinnt.
Verbuschen, verwildern, verwalden. Diese Wörter klingen in den Ohren von Bergbauern wie Wurzelbehandlung oder Zahnoperation. Mit ihrer Arbeit und mit ihren Tieren sorgen sie dafür, dass die Landschaft in den Alpen so aussieht, wie sie es tut. „Werden die Almen vernachlässigt, holt sich der Wald die Natur zurück“, sagt Susanne Krapfl. Blühende Wiesen werden zu unwegsamem Gelände. Baumsprösslinge überwuchern seltene Kräuter, die heutzutage im Tal kaum mehr vorkommen. Biodiversität und Artenvielfalt nehmen langfristig ab. Verantwortungsbewusstsein ist gefragt und Wissen über Naturschutz. Die Almwirtschaft hat viele Facetten. „Und eines darf man nicht vergessen: Dahinter steckt ein landwirtschaftlicher Betrieb, der Einkünfte erwirtschaften muss“, sagt Krapfl.
Die meisten Almen sind in Familienbesitz. „I hab’s aa in die Gene“, sagt Maria Anner. Schon ihre Oma war im Sommer immer oben. „Wir sind Berg-Tussis“, sagen Ingrid und Maria von sich. Den Almen im Kampenwandgebiet kommt diese Leidenschaft zugute. Doch nicht überall ist Nachwuchs da. Mancher Landwirt greift deshalb auf angestelltes Almpersonal zurück. „Da braucht’s Vertrauen“, sagt Maria, „wenn Fremde auf deiner Alm rumwurschteln.“ Die Landwirte vertrauen den Fremden ihre Tiere, ihr Vermögen, an.
Was das bedeutet, merken die acht Kursteilnehmer, als Maria zum Melken ruft. Neuland für alle. Zunächst müssen die Milchkühe in den Stall getrieben werden. Bei Sprühregen kein leichtes Unterfangen. Almen für Fortgeschrittene. Angst ist fehl am Platz. Die Teilnehmer müssen unter die Kuh. Maria zeigt die Faust-Melk-Methode. Es sieht einfach aus. Sie knetet das Euter und die Milch fließt. Acht Paar Hände versuchen es, drücken sachte, fester, wollen der Kuh nicht weh tun. „Die sind echt geduldig“, sagt Sonja Zollner, als sie dran ist. Geduld brauchen nicht nur die Kühe. „Mei, des is’ Übungssach’“, sagt Maria, die mit gekonnten Handgriffen die Kühe von ihrer Milch befreit.
Mancher ist etwas verunsichert nach dem mäßigen Melkerfolg. „Macht’s eich locker“, sagt Ingrid aufmunternd: „Ihr könnt’s des.“ Sie hat längst die Coolness, die es am Berg braucht. Strahlt Gelassenheit aus und eine Seelenruhe. Die Teilnehmer kennen jetzt ein paar Grundlagen fürs Almleben. Sie haben die harten Seiten erahnen können. Und bekommen dann doch noch ein Stück Alm-Idyll geboten. Am Abend verzieht sich der Dunst, der nach dem Regen über dem Tal lag. Ein sagenhaftes Bergpanorama tut sich auf. Die umliegenden Gipfel strahlen in der Abendsonne. Und plötzlich ist es da, das Gefühl, dass so ein Almleben alle Mühen wert ist.