Kampf um die Arktis

von Redaktion

Foto: Getty Images

VON ANDRÉ ANWAR

Nuuk/Ilulissat/Stockholm – „Sehen Sie die Eisberge dort drüben?“, ruft der vollbärtige Kapitän. Er steht steuerbord auf seinem kleinen Boot an der Küste von Ilulissat im Westen Grönlands. „Die waren vor 40 Jahren noch doppelt so hoch!“, sagt er und zeigt auf die märchenhaft in der Sonne glitzernden, blau-weißen Eisberge. der Kapitän weiß, wovon er spricht. Er lebt schon immer hier, ist schon mit dem Vater rausgefahren. Er irre sich nicht, sagt er.

Die Begegnung mit dem Kapitän ist schon einige Jahre her – und die Schmelze geht weiter. Die Wissenschaft bestätigt das Jahr für Jahr. Gerade hat eine dänische Studie herausgefunden, dass auf Grönland, der größten Insel der Welt, derzeit täglich acht Milliarden Tonnen Eis schmelzen. Das sei das Doppelte des üblichen Wertes im Sommer. Es ist warm wie nie, Die Temperaturen, auch sie liegen teilweise doppelt so hoch wie in einem durchschnittlichen Sommer. Es schmilzt mehr Eis, als im arktischen Winter wieder gefrieren kann. Das Grönland-Eis, es schwindet.

Die Arktis lockt mit Öl, Gold, seltenen Erden

Doch im arktischen Norden freut man sich vor allem über die wirtschaftlichen Möglichkeiten, die das mit sich bringt. Auf der anderen Seite der Erdkugel liegt die Antarktis. Der Südpol bleibt dank internationaler Verträge von 1958 und 1991 militärisch, wirtschaftlich und ökologisch verschont von der Menschheit. Weil es solche Verträge für die Arktisregion nicht gibt, wird die Frage nach deren Eigentümer derzeit immer lauter gestellt. Denn unter dem rund 14 Millionen Quadratkilometer großen arktischen Meer, es ist größer als Russland, sollen gewaltige Bodenschätze schlummern. Den Anrainernationen gilt die Arktis dank Erderwärmung und Eisschmelze als bald erreichbare Schatztruhe. Die Verlockung auf so viel Reichtum ist groß.

Im Meeresboden sollen riesige Mengen an Edelmetallen, seltenen Erden, Gold und 14 Prozent der weltweiten Erdöl- sowie 30 Prozent der Erdgasreserven schlummern. Wie viel es wirklich ist, weiß niemand. Es sind Schätzungen. Doch mittelfristig soll all das unter profitablen Bedingungen förderbar werden.

Das Eis machte das bisher nicht wirklich lohnenswert. Doch die Fischfangflotten stoßen schon immer weiter nach Norden vor. Auch Norwegen und Russland bohren immer weiter nördlich im Meer nach Öl, weil das Eis sich zurückzieht. Russland hat bereits kräftig in der Arktis aufgerüstet und verfügt über eine weltweit einmalige atomkraftbetriebene Eisbrecherflotte, mit der es bereits kommerzielle Schiffe durch die immer eisfreier werdende Nordost-Passage von Fernost nach Europa geleitet.

Um jede Meile Arktis wird kräftig gefeilscht

Geologen aller Anrainernationen messen, was das Zeug hält, um zu klären, wem welcher Teil der Arktis gehört. Bei der zumindest offiziell verantwortlichen UN-Kommission liegt ein Teil des Augenmerks der Schiedsrichter auf den sogenannten Festlandsockeln der einzelnen Nationen. Sie liegen unter Wasser, gelten aber als zu den konkurrierenden Ländern gehörenden Unterwasserfortsetzungen des nationalen Festlandes, etwa aufgrund gleicher Gesteinsstruktur. Die unterirdischen Sockel sind interessant wie nie. International gilt die für die exklusive nationale Nutzung bestehende 200-Seemeilen-Zone von der Küste aus – Arktisanrainer können diese aber um weitere 150 Seemeilen ausweiten, wenn sie wissenschaftlich glaubhaft beweisen können, dass die Fortsetzung ihrer jeweiligen Festlandsockel unter Wasser lang genug sind. Es ist also ein Messen und Schachern um jede Meile. Nicht alle arktischen Gebiete können eindeutig nach diesem Verfahren zugeordnet werden.

Gebietsansprüche überschneiden sich überall. So weist Dänemark auf einen unter dem Meeresspiegel liegenden Gebirgszug namens Lomonossow-Rücken als Fortsetzung des zu Dänemark gehörenden grönländischen Festlandsockels hin. Aber der Lomonossow-Rücken ist lang. Er reicht von Grönland bis zum sibirischen Kontinentalsockel. Russland ist freilich anderer Meinung. Letztlich soll die Arktis wie dreieckige Tortenstücke zur Ausbeutung an die Anrainernationen verteilt werden. Doch die Frage steht im Raum, was passiert, wenn es hart auf hart kommt. Wenn Russland das rechtliche Spiel zu bunt wird. Vor allem Moskau könnte durch seine derzeit deutliche militärische und technische Überlegenheit in der Region das bürokratische Spiel um Festlandsockel und Seerechte ignorieren und militärische Fakten schaffen, warnen Experten. Es wäre nicht das erste Mal. Optimisten glauben, dass Zusammenarbeit sich als bester Weg für alle Anrainer erweisen wird. Auch Volker Rachold, Leiter des Deutschen Arktisbüros am Alfred-Wegener-Institut in Potsdam. Rachold glaubt, dass ein friedlicher Weg gefunden werden kann. Noch mehr Sanktionen aus dem Westen wären schmerzhaft für Moskau.

Zudem steht Russland ohnehin ein Großteil der Arktis zu – und die Kontrolle fast der gesamten Nordostpassage nach China (siehe auch Artikel rechts). Es buhlt auch nicht um die Gunst der Grönländer, so wie die USA und China. Im März führte Russland ein U-Boot-Manöver durch und durchbrach mit den für die Arktis gebauten Unterwasserschiffen meterdickes Eis. Auch werden alte nördliche Basen, Häfen, und Bereitschaftseinheiten wie im Kalten Krieg reaktiviert.

Auch wenn Putin 2007 medienwirksam eine russische Flagge in den Meeresboden unter dem Nordpol rammen ließ, hat Moskau seit Kurzem den Vorsitz des Arktischen Rates inne. Der „Arktische Rat“ ist ein nicht bindendes informelles Forum, bei dem sich die arktischen Anliegerstaaten USA, Russland, Kanada, Grönland, Island, Finnland, Norwegen, Schweden und Dänemark gemeinsam mit Verbänden der indigenen arktischen Völker, der Inuit, austauschen. Im Rat bemüht sich Russland um diplomatischere Töne – sogar die Rechte der Inuit liegen Moskau offiziell plötzlich am Herzen.

Die Präsenz vor Ort steigt – auch militärisch

Muskelspiele zwischen Eigeninteresse und dem Bedarf an internationaler Kooperation sind aber auch in Washington und bei seinen militärisch kleinen Verbündeten an der Tagesordnung. Sogar China versucht am arktischen Ball zu bleiben – auch wenn Peking den Dänen nicht gleich die ganze Insel abkaufen wollte, so wie Ex-US-Präsident Donald Trump.

Die USA sind in der Arktis präsenter, als es sichtbar ist. Washington will sein Arktis-Engagement kräftig ausbauen. Auch militärisch. In Kopenhagen und Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, soll ein Diplomatenchor die Grönländer bearbeiten. Die würden seerechtlich ein besonders großes Stück vom Kuchen erhalten, haben aber kein technisches Know-how.

Eine friedliche Kooperation hängt auch davon ab, wie sehr die Nationen bei der Bergung der Schätze technisch aufeinander angewiesen sind. „Es dürfte noch viele Jahre dauern, bis aus der Arktis wirklich in größeren Mengen wertvolle Bodenschätze gefördert werden“, glaubt Volker Rachold. Doch die Anrainer beäugen sich schon misstrauisch und rüsten auf. Sogar die neutralen Schweden und Finnen denken um. Die Nato-Länder Kanada, Dänemark mit seinem autonomen Grönland sowie den Schafsinseln, Island und Norwegen verlassen sich vor allem auf die USA.

Russland sendet Signale für Kooperation

Deren neuer Außenminister Antony Blinken hat im Mai Kopenhagen, Grönland und Island besucht – kein Zufall. Auf Grönland hat Washington erstmals seit den 50er-Jahren wieder ein richtiges Konsulat. Seit 1951 betreiben sie die Thule-Militärbasis im Nordosten Grönlands.

„Ich halte die Schlagzeilen über Wettrüsten um die Arktis für übertrieben“, sagt Naturwissenschaftler Rachold. Selbst Russland sende deutliche Zeichen der Kooperationsbereitschaft. Alle würden von einer Zusammenarbeit profitieren. Technisch ist die Arktis nämlich noch immer schwer zu meistern. Aber auch beim Umweltschutz sieht Rachold Fortschritte. Die Wissenschaftsgemeinschaft in der Arktis habe jedenfalls einen sehr hilfsbereiten Umgang miteinander.

Bisher betonen alle Anrainer, auch Russland, die Ansprüche friedlich regeln zu wollen. Das wurde zuletzt auch beim Arktischen-Rat-Treffen in Island unterstrichen. Die Schlagzeilen über ein Wettrüsten in der Arktis seien übertrieben, findet Rachold. „Es herrscht eine kollegiale Stimmung vor.“ Norwegische Sicherheitsexperten hingegen hoffen auf mehr militärische Präsenz der USA in der umkämpften Arktis.

Artikel 3 von 3