New York – Ein paar Schritte vor dem UN-Gebäude stößt der Kanzler an die Grenzen seiner Macht. Er will nur über die Straße, aber ein riesiger Bus schiebt sich in den Weg, bleibt im Stau stecken. Dann blockiert eine jaulende Polizeikolonne im Schritttempo die First Avenue. Und als die Sicht frei ist, zeigt sich: Betonblöcke teilen die Straße, eh kein Durchkommen hier. Olaf Scholz muss einen Umweg antreten, hinten rum über die Fußgängerampel.
Gräben, Hürden, Blockaden, Umleitungen und dazu dauernd Alarm – symptomatisch für diesen Tag: Willkommen auf der Weltbühne der Politik in aufgeregten, kriegerischen Zeiten.
In New York kommt in dieser Woche die Welt zusammen, Generalversammlung der Vereinten Nationen. Früher war das mal die Jahrestagung für salbungsvolles Gerede und Selbstdarstellung. Kann man sich das nun, ein halbes Jahr nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine, nach dem Aufflammen regionaler Kriege und angesichts verstärkter Hungersnöte, so noch leisten?
Der Gastgeber, der Hausherr, macht seine Sicht schon im ersten Satz seiner Rede klar. UN-Generalsekretär Antonio Guterres versucht, das Auditorium wachzurütteln. „Our world is in big trouble“, ruft er in den riesigen Saal, unsere Welt hat ein dickes Problem. „Vertrauen zerbröckelt. Ungleichheiten explodieren. Unser Planet brennt.“ Aber die Staatengemeinschaft reagiere „gelähmt“.
Was der Portugiese fordert, ist eine „Koalition der Welt“ für den Frieden: diplomatische Lösungen für alle Konflikte, vereinten Einsatz gegen Flucht und Not. Was er als Repliken aus dem Plenum so alles erhält, ist durchwachsen. Oft Partikular-Interessen, Rechtfertigung, Anheizen neuer Konflikte. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan erklärt flammend seinen Zorn und seine Vorwürfe gegen die Griechen. Der Brasilianer Jair Bolsonaro verteidigt das Abholzen des Amazonas-Gebiets.
Das soll Fortschritt sein, Bewegung, Näherkommen? Berater raunen, ach, um die Reden gehe es schon lange nicht mehr, wichtiger seien die vielen bilateralen Treffen rund um den Welt-Gipfel. Und wenn schon Reden, möge man bitte auf Mittwoch warten. Da wird US-Präsident Joe Biden, eben zurückgekehrt von der Queen-Beisetzung aus London, ans Pult treten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wird diese Woche eingespielt, wie immer nur per Video, weil er sein angegriffenes Land nicht verlässt. Und: Olaf Scholz wird dann geredet haben.
Der Kanzlers tritt am Dienstagabend in New York ans Pult, also in den frühen Morgenstunden unserer Zeit. Für Scholz ist der UN-Auftritt keine lästige Pflichtübung, die wegzulabern wäre wie in manch internationalen Gremien. Er will sich vorstellen als neuer Bundeskanzler, ernst genommen werden. Er will wirken vor der Weltgemeinschaft, die Unterstützer der Ukraine irgendwie zusammenhalten. Da bröckelt es ja. Keiner weiß, ob eine erneute UN-Resolution gegen Russland noch auf 141 Ja-Stimmen käme, Moskau kann auf Eingekaufte und Ermüdete in der Generalversammlung hoffen.
Scholz’ Rede hat auch Gewicht, weil sie selten ist. Seit 15 Jahren trat kein Bundeskanzler mehr vor die Vollversammlung, Angela Merkel war 2007 die Letzte. Was er vor der berühmten grünen Marmorwand des UN-Saals sagen will, soll deshalb Tiefgang haben. Als Erwartung kursiert: Es soll die internationale Fortentwicklung seiner „Zeitenwende“-Rede sein. Die Warnung vor einer regellosen Welt, in der Regeln zwar gelten, aber nicht mehr durchgesetzt werden, in der am Ende nicht Anarchie, aber Tyrannei der Stärksten herrscht.
Natürlich schreit da aus jeder Zeile: Ukraine! Scholz will aus New York auch eine Botschaft an die Russen, an Putin schicken. Von „imperialen Ambitionen“ und Aggressionen spricht der SPD-Kanzler vor seinem Auftritt, warnt vor dem „Zerbrechen der Sicherheits- und Friedensordnung der gesamten Welt“. Die gerade eben angekündigten Unabhängigkeits-Abstimmungen in mehreren ukrainischen Regionen für den Anschluss an Russland verspottet er als „Schein-Referenden“, sie seien „nicht gedeckt vom Völkerrecht“. Putin ist zwar nicht in New York zugegen, aber immerhin sein Außenminister Lawrow.
Das klingt entschlossen. Trotzdem holt Scholz auch in New York oft die Frage ein, der er in Deutschland auch kaum ausweichen kann: Panzer, wann liefert ihr Kampfpanzer in die Ukraine? Der Kanzler sagt bisher auch auf dieser Reise nichts Neues dazu. Er bewegt sich immer in kleinen Schritten: hier ein neuer Ringtausch, da noch mal vier Haubitzen mit Munition, die Zusage, verlässlich zu liefern. Was, wenn Außenministerin Annalena Baerbock, die per Linie nach New York nachkommt, sich offensiver äußert? Oder Selenskyj wieder Kampfpanzer fordert?
Scholz schweigt hierzu. Mehr Arbeitszeit verbringt er in New York eh in bilateralen Terminen. Mit Erdogan sitzt er etwa 30 Minuten zusammen. Um die Nato-Erweiterung dürfte es gegangen sein, um die Ägäis und wohl um die Migration. Scholz ist hinterher auffällig schweigsam, nur eins reibt er ihm öffentlich hin: Dass er „sehr irritiert“ sei über die jüngste Annäherung der Türkei an die von China und Russland dominierte Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.
Drinnen Emotionen, draußen auch: Rund um das UN-Areal am East River herrscht Ausnahmezustand, Sperren, Kontrollen, Sirenen. Und Gegensätze, so wie drinnen. Zornige Gegendemonstranten erinnern daran, dass da auch Potentaten und Diktatoren die Weltbühne suchen. „Du bist ein Monster“-Plakate recken sie zum Beispiel der Kolonne des Brasilianers Bolsonaro entgegen. Eine Straßenecke weiter stehen seine Fans, sie singen, tanzen und jubeln. Und beide Gruppen blicken nur in die verdunkelten Scheiben der Limousinen.