Berlin/Bornholm – Die Zeichen, dass es sich bei den verheerenden Lecks an den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 in der Ostsee um die Folgen eines Anschlags handelt, mehren sich. Ein Überblick über die bisher bekannten Fakten.
Was ist passiert?
In der Nacht zum Montag war zunächst in einer der beiden Röhren der Pipeline Nord Stream 2 ein starker Druckabfall festgestellt worden. Am Montagabend meldete dann der Betreiber von Nord Stream 1 einen Druckabfall in beiden Röhren. Am Dienstag teilte die dänische Energiebehörde mit, es gebe insgesamt drei Gaslecks nahe der Insel Bornholm – zwei Lecks an Nord Stream 1 nordöstlich der Ostsee-Insel sowie eines an Nord Stream 2 südöstlich der Insel. Die Rohre liegen dort in etwa 70 Metern Tiefe. Die Pipelines sollen über eine größere Länge aufgerissen sein, berichtete der „Spiegel“ gestern. Anders sei der „explosionsartige Druckabfall“ in den Pipelines nicht zu erklären, zitiert das Magazin aus Kreisen der Bundesregierung.
Wie ist es zu den Lecks gekommen?
Die Ursache sei bislang nicht geklärt, hieß es gestern aus Sicherheitskreisen. Jedoch spreche einiges für Sabotage. Sollte es sich um einen Anschlag handeln, komme wegen des technischen Aufwands eigentlich nur ein staatlicher Akteur infrage. Ob es Russland selber war, ist noch völlig unklar.
Aus Kreisen der Bundesregierung hieß es gestern, es könnte sich um einen Anschlag handeln, um Verunsicherung auf den europäischen Gasmärkten zu provozieren. Auch der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki ist überzeugt, dass es ein Anschlag war. „Wir kennen heute noch nicht die Details dessen, was da passiert ist, aber wir sehen deutlich, dass ein Sabotageakt vorliegt“, sagte Morawiecki gestern im polnischen Goleniow bei Stettin, wo er an der Eröffnung der Gaspipeline „Baltic Pipe“ teilnahm. Dieser Sabotageakt sei „wahrscheinlich die nächste Stufe der Eskalation, mit der wir es in der Ukraine zu tun haben“. Die Ukraine legte sich bereits fest. Es sei „nichts anderes als ein von Russland geplanter Terroranschlag und ein Akt der Aggression gegenüber der EU“, schrieb der ukrainische Präsidentenberater Mychailo Podoljak auf Twitter. Auch Russland äußerte sich. „Jetzt kann keine Variante ausgeschlossen werden“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Dienstag. Man sei angesichts der berichteten Lecks „extrem besorgt“. „Dies ist eine noch nie da gewesene Situation, die dringend untersucht werden muss“, sagte Peskow auf die Frage, ob Sabotage der Grund sein könne für den Druckabfall.
Was spricht gegen einen Schiffsunfall?
Laut Nord-Stream-2-Sprecher Ulrich Lissek sind die Leitungen so verlegt, dass eine gleichzeitige Beschädigung mehrerer Rohre etwa durch einen einzelnen Schiffsunfall höchst unwahrscheinlich ist. Zur Frage, ob ihm ähnliche Vorfälle im Zusammenhang mit Offshore-Pipelines bekannt seien, sagte er: „Hab’ ich nie gehört.“ Auch die dänische Regierung schließt einen Unfall aus. Die Behörden seien zu der eindeutigen Bewertung gekommen, dass es sich um absichtliche Taten handle und nicht um ein Unglück.
So ist die Lage vor Ort
Gesehen hat die Lecks unter Wasser noch niemand. Erahnen lassen sie sich aber schon: Das dänische Militär veröffentlichte gestern erste Aufnahmen von einer gewaltigen Menge an Blasen an der Wasseroberfläche (Foto oben). Aus Nord Stream 2 ströme „richtig, richtig viel Gas“, sagte der Leiter der dänischen Energiebehörde, Kristoffer Böttzauw, der Zeitung „Berlingske“. Angesichts dieser Menge Gas könne es sich nicht um einen kleinen Riss handeln. „Das ist ein richtig großes Loch.“ Die blubbernde Wasseroberfläche hat einen Durchmesser von hunderten Metern.
Geht von den Lecks Gefahr aus?
Zumindest direkt über den Gaslecks besteht für die Schifffahrt Gefahr. Nach Angaben der dänischen Energiebehörde können Schiffe den Auftrieb verlieren, wenn sie in das Gebiet hineinfahren. Zudem bestehe womöglich eine Entzündungsgefahr. Außerhalb der Zone gebe es keine Gefahr, auch nicht für die Einwohner von Bornholm und der kleinen Nachbarinsel Christiansø. Die dänische Schifffahrtsbehörde hat für den Schiffsverkehr Sperrzonen eingerichtet.
In Deutschland sieht das für die hiesigen Pipeline-Abschnitte zuständige Bergamt Stralsund zumindest keine unmittelbare Gefahr einer Verschlimmerung der Lage: „Eine weitere Schadensausbreitung dürfte aus technischer Sicht – nach gegenwärtigem Stand – unwahrscheinlich sein“, teilte die Behörde mit. Der Druck in den Leitungen habe sich entsprechend der Wassertiefe auf einem niedrigen Niveau eingestellt.
Und wie sieht es mit der Umwelt aus?
Das Bundesumweltministerium und auch der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) schätzen die möglichen kurzfristigen Auswirkungen der Lecks auf die Umwelt als lokal begrenzt ein. „Dort entsteht für die Tiere allerdings die Gefahr zu ersticken. Das betrifft besonders die Tiere, die nicht schnell flüchten können“, sagte Nadja Ziebarth, Leiterin des BUND-Meeresschutzbüros. Das entwichende Methan schädige aber das Klima.
Wie geht es weiter?
Da eines der Lecks in schwedischen Hoheitsgewässern liegt, wurden sowohl in Schweden als auch Dänemark Krisenstäbe einberufen, an denen mehrere Ministerien und Behörden beteiligt sind, wie die schwedische Außenministerin Ann Linde der Zeitung „Aftonbladet“ sagte.
Auch der Betreiber der Nord-Stream-1-Trasse will nicht untätig bleiben. Man veranlasse derzeit Untersuchungen, sagte ein Sprecher der Nord Stream AG, die für Nord Stream 1 zuständig ist. Vermutlich werden sich Experten mit Tauchrobotern ein Bild von der Lage machen.
Haben die Schäden Auswirkungen auf die Gasspeicherbefüllung?
Nein. Nord Stream 2 war nie in Betrieb. Den Gastransport durch Nord Stream 1 hatte Russland am 31. August eingestellt. Seitdem bekommt Deutschland kein Erdgas mehr aus Russland. Ersatz kommt über Pipelines aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien. Die deutschen Speicher sind aktuell laut Bundesnetzagentur zu 91,3 Prozent gefüllt.
Warum ist überhaupt Gas in den Pipelines?
Auch wenn das Projekt nie in Betrieb ging: Nord Stream 2 wurde Ende 2021 testbefüllt, deshalb ist seitdem Gas in den beiden Röhren. Bei Nord Stream 1 war gestern noch nicht bekannt, ob und wie viel Gas trotz des Lieferstopps noch in den Pipelines ist.