Abschied von einer Kämpferin mit Herz

von Redaktion

VON MIKE SCHIER

München – Es gibt Termine im Leben eines Journalisten, die man nicht vergisst. Acht Jahre ist es her, Oktober 2014. Barbara Stamm, damals Präsidentin des Landtags, sitzt unter einem Kronleuchter in ihrem Büro im Maximilianeum. Ein Routinetermin. Die Sekretärin hat Cappuccino gebracht, der Pressesprecher macht sich Notizen. Es soll um ihren 70. Geburtstag gehen, der in ein paar Tagen ansteht. Um alles, was sich in vier Jahrzehnten Politikerleben so angesammelt hat. Vieles ist bekannt. So bekannt, dass man vorher sogar überlegt hat, ob dieses Gespräch für ein Geburtstagsporträt überhaupt notwendig ist.

Ist es. Und wie. Denn während es draußen dunkel wird, fängt Barbara Stamm zu erzählen an. Dinge, die man noch nie gehört, noch nirgends gelesen hat. Dinge, ohne die man diese Frau gar nicht verstehen kann, die oft so widersprüchlich wirkte. Das soziale Gewissen ihrer Partei. Sehr emotional, nah am Wasser gebaut. Und zugleich so hart und kämpferisch. Stamm erzählt aus ihrer Kindheit, die sie zu einer Politikerin gemacht hat, vor der sich nach ihrem Tod alle in Bayern tief verneigen. Eine Kindheit, in der nichts auf diese Karriere hindeutete.

Die kleine Barbara wächst auf einem Bauernhof in der Nähe ihres Geburtsorts Bad Mergentheim auf. Was sie nicht weiß: Ihre Eltern sind nur Pflegeeltern. Und so bricht eine Welt für sie zusammen, als plötzlich – Barbara ist acht Jahre alt – eine Frau auftaucht, die ihre tatsächliche Mutter ist. Die Frau ist noch dazu taubstumm, das Mädchen völlig verzweifelt. „Ich hatte noch nie einen Menschen erlebt, mit dem ich nicht kommunizieren konnte“, erinnert sich Stamm. Das soll ihre Mutter sein? Vom Bauernhof geht es in eine Einzimmer-Wohnung in Bamberg. Und als wäre alles nicht schon verstörend genug, gibt es dort noch einen gewalttätigen Stiefvater.

So beginnt eine Odyssee zwischen Jugendamt und Familie. „Immer wenn die Lehrer in der Schule merkten, dass ich vor lauter blauen Flecken nicht mehr sitzen konnte, hat mich das Jugendamt aus der Familie geholt, und ich wurde im Heim wieder aufgepäppelt. Aber meine Mutter hat mich immer wieder zurückgeholt – leider“, erzählt Stamm später in einem anderen Interview. Das intelligente Mädchen, das nie erfährt, wer sein leiblicher Vater ist, darf nur die Volksschule besuchen. Aber es lernt zu kämpfen.

Die Karriere der Politikerin Barbara Stamm neigt sich bereits dem Ende zu, als diese Geschichte öffentlich wird. Und erst da wird klar, warum diese Frau – die ebenso herrisch wie zerbrechlich auftreten kann – immer weitermacht. Es ist ja nicht so, dass ihr Leben in der Politik frei von Rückschlägen gewesen wäre. Stamms Partei, die sich gestern so ehrfürchtig vor ihr verneigt, hat ihr beispielsweise nie ein Direktmandat verschafft. Vier Jahrzehnte lang sitzt sie im Parlament, ist Ministerin und sogar stellvertretende Ministerpräsidentin. Doch die Stimmenkönigin muss sich ihren Platz immer wieder über die Liste in Unterfranken sichern. 2008 wird es ganz eng. Es geht um wenige Stimmen. Stundenlang zittert Stamm um ihr Mandat, ihre Karriere scheint vorbei. Erst um Mitternacht hat sie Gewissheit – Wochen später wird sie als Landtagspräsidentin vereidigt.

So war es immer im Leben der Barbara Stamm. Aufstehen, durchhalten, weitermachen. Schon als junges Mädchen: „Ich habe mir meine Ausbildung erst verdienen müssen“, erzählt sie beim Gespräch 2014 im Landtag. Nach der Hauptschule muss sie drei Jahre im Kinderheim in der Waschküche arbeiten. „Dann habe ich von einer Religionslehrerin ein Darlehen bekommen, damit ich meine Ausbildung machen konnte.“ Die heutigen JU-Karrieristen mit ihrem Jurastudium können sich das vermutlich nicht mal vorstellen. Stamm wird Erzieherin, engagiert sich in der katholischen Jugendarbeit – und politisch. Spätestens jetzt findet zusammen, was ihr ganzes Leben bestimmen soll: das Soziale, aber auch die Härte in der politischen Auseinandersetzung. Heute hat die CSU niemanden mehr, der das Soziale so verkörpert wie sie.

Als Stamm 1976 – der Ministerpräsident heißt noch Alfons Goppel – ins Parlament nachrückt, gibt es nicht viele Frauen in der CSU-Fraktion. Schon gar keine, die drei Kinder hat. Das Ehepaar Stamm lebt vor einem halben Jahrhundert eine Arbeitsteilung, die heute viele selbst erklärte Feministen nicht kennen. Wenn die junge Mutter doch einmal ein Kind ins Maximilianeum mitnimmt, finden das die männlichen Kollegen eher nervig als fortschrittlich. Dass mit Claudia später eine der Töchter – ausgerechnet für die Grünen – selbst im Landtag sitzt, gehört zu den ironischen Seiten ihrer Lebensgeschichte.

Immer wieder wirft man ihr in der Partei Steine in den Weg. Als sie 1990 für das Amt des Würzburger Oberbürgermeisters kandidiert, tritt ein CSU-Mann mit neu gegründeter Liste gegen sie an – und gewinnt. 2008 wird Stamm schon als künftige Landtagspräsidentin gehandelt, da macht die „Bild“ ihre erste Krebserkrankung öffentlich. „Parteifreunde“ hätten verbreitet, Stamm falle „vermutlich längere Zeit oder sogar ganz aus“. Ihre Wahl verhindert das nicht. Doch die erste Bestrahlung folgt kurz nach der Vereidigung. Die Präsidentin muss zwischenzeitlich mit einer verhassten Perücke auftreten – aber sie hält durch.

So wie 2013. Stamm steht im Feuer. Über den Landtag ist die Verwandtenaffäre hereingebrochen. Abgeordnete, vorzugsweise aus der CSU, haben Ehefrauen und sogar minderjährige Kinder angestellt, um neben der eigenen Diät auch noch Geld aus Mitarbeiterpauschalen abzugreifen. Stamm, inzwischen so etwas wie die Landesmutter, stellt sich vor ihre ungezogenen Kinder und gerät damit selbst ins Kreuzfeuer. Auf dem Flur vor dem Plenarsaal wird sie heftig von Journalisten bedrängt. Es wird laut. Auf beiden Seiten. Sie soll endlich die Namen aller Verdächtigen rausgeben. Stamm weigert sich. Tage später muss sie doch nachgeben.

Nur einmal hat sie nicht genug Kraft, um den Stürmen zu widerstehen. Es ist 2001, eine halbe Ewigkeit her. BSE-Skandal. Für die Jüngeren: Es geht um eine Tierseuche, umgangssprachlich Rinderwahn genannt. Die Panik ist fast so groß wie später bei Corona – nur rückblickend weniger gerechtfertigt. Die Gesundheitsministerin Stamm begeht Fehler und muss schließlich zurücktreten. Die Kritik ist groß, sie wird sogar auf der Straße angepöbelt. „Wenn ich jemals Angst davor hatte, psychisch krank zu werden, dann damals“, sagt sie später. Dass Ministerpräsident Edmund Stoiber nicht zu ihr steht, vergisst sie ihm nie.

Danach steht sie wieder auf. Natürlich. Als Landtagspräsidentin ist sie jahrelang die beliebteste Politikerin im Freistaat, in Franken sowieso. Den Wein von dort gibt es unter ihrer Regentschaft bei jeder Abendveranstaltung im Parlament, den Fasching in Veitshöchheim liebt sie. Denn das wissen viele nicht: Barbara Stamm ist auch ein „veritables Feierbiest“, wie es ihr SPD-Kollege Franz Maget mal scherzhaft ausdrückt. Sie liebt es, unter Leuten zu sein. Auch bis tief in die Nacht.

Den Sommerempfang des Landtags im Schloss Schleißheim macht sie zum Bürgerfest mit vielen Ehrenamtlern. Die normalen Leute hat die langjährige Vorsitzende der Lebenshilfe nie vergessen. Von daher passt es, dass sie in Schleißheim am 19. Juli 2022 auch ihren letzten Auftritt hat – als Gast ihrer Nachfolgerin Ilse Aigner. Der Krebs ist schon lange zurückgekehrt, er hat sie gezeichnet. Ein letztes Mal steht Stamm im Mittelpunkt, wenngleich viele auch erschrocken sind.

Tags darauf schickt man ihr eine SMS, ob sie noch mal ein Interview geben will, schließlich fragen viele, wie es ihr geht. Dieses Gespräch kommt nicht mehr zustande.

Gestern Morgen ist Barbara Stamm im Alter von 77 Jahren gestorben.

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