München – Seit Montag ist das 187. Oktoberfest Geschichte – doch beim Blick auf die Infektionszahlen in und um München trifft viele plötzlich der Wiesn-Blues. Die Corona-Herbstwelle rollt mit aller Macht an. Aber was bedeutet das für die Kliniken? Wie gefährlich ist die aktuelle Variante? Und ist ein Ende der Pandemie absehbar? Ein Überblick.
Wie ist die Infektionslage?
Die Herbstwelle rollt. Das zeigt der Blick auf die Zahlen: Für Deutschland gab das Robert-Koch-Institut (RKI) die 7-Tage-Inzidenz gestern mit 462 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner an, doppelt so hoch wie vor vier Wochen. Zum Vergleich: Der Pandemie-Höchststand war der März dieses Jahres mit einer Inzidenz von 1758. Bayern liegt deutlich über dem Bundesschnitt. Hier liegt die Inzidenz bei 715. Und gerade die Landkreise rund um München wie Fürstenfeldbruck, Ebersberg und Dachau sind mit Inzidenzen jenseits der 1000 bundesweit unter den Spitzenreitern. Grundsätzlich gilt weiterhin: Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Denn nur positive PCR-Tests fließen in die Statistik ein.
Welche Corona-Variante dominiert gerade?
Da hat sich im Vergleich zur Sommerwelle nicht viel getan. Seit Mitte Juni hat die Omikron-Sublinie BA.5 andere Varianten fast vollständig verdrängt. Laut RKI lag ihr Anteil zuletzt bei 96 Prozent. Der Anteil der Sublinie BA.2.75, die im Verdacht steht, den Immunschutz besser zu umgehen als andere Varianten, liegt noch bei unter einem Prozent.
Spüren die Kliniken die Herbstwelle schon?
Ja, wenn auch etwas anders als in den vorherigen Wellen. Die Belegungszahlen steigen wieder. So werden etwa in der München Klinik aktuell rund 200 Covid-Patienten versorgt – und somit fast genauso viele wie beim bisherigen Höchststand in der Deltawelle. Allerdings war damals die Zahl der Intensivpatienten dreimal so hoch wie heute. Bayernweit sind derzeit laut Krankenhausgesellschaft 3900 Patienten mit Corona in den Kliniken, davon 280 auf Intensiv. Die Zahlen haben sich in den letzten zwei Wochen etwa verdoppelt. Dr. Christoph Spinner, Pandemiebeauftragter des Universitätsklinikums rechts der Isar der TU München, sagt aber mit Blick auf die steigenden Belegungszahlen: „Das sind fast alles Patienten, die wegen anderer Erkrankungen in der Klinik sind.“ Belastend ist die Situation für die Kliniken trotzdem, vor allem wegen des hohen Versorgungsaufwands für Corona-Patienten und den ebenfalls coronabedingten Personalausfällen (siehe Bericht im Bayernteil).
Wie gefährlich ist Corona überhaupt noch?
Für Christoph Spinner hat Corona für weite Teile der Bevölkerung seinen großen Schrecken verloren. „Zu Beginn der Pandemie lag die Sterblichkeit in der Allgemeinbevölkerung bei 4,5 Prozent“, sagt er. „Inzwischen, das zeigen die nationalen RKI-Daten, ist die Sterblichkeit auf deutlich unter 0,1 Prozent gefallen.“ Spinner berichtet von Untersuchungen am Uni-Klinikum Hamburg, wo zu Beginn der Pandemie auch junge, gesunde Menschen unter den Todesopfern waren. Seit Omikron wurden bei der Untersuchung jedoch keine Toten außerhalb der Risikogruppen mehr festgestellt. „Das liegt daran, dass die Immunkompetenz in der Allgemeinbevölkerung durch Impfung und Genesung deutlich gestiegen ist.“ Inzwischen habe vermutlich fast jeder Deutsche, ob gewollt oder ungewollt, schon mal Kontakt mit dem Virus gehabt. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie der München Klinik, ist da etwas zurückhaltender. Er warnt: „Das Risiko für Post-Covid ist neben der akuten Infektion nicht zu verharmlosen.“ Neben langwierigen Lungenproblematiken beobachte er immer noch auch viele Fälle mit Herzmuskelentzündungen, die „einschränkend bis gefährlich“ sein können.
Für wen ist die vierte Impfung wichtig?
Für alle diejenigen, die trotz der abgeschwächten Omikron-Variante noch schwer erkranken können. Spinner sagt: „Eine israelische Studie zeigt: Der zweite Booster reduziert schon in den ersten 30 Tagen die tödlichen Fälle um 70 Prozent.“ Deswegen müsse man sich jetzt darauf konzentrieren, die Kampagne für die zweite Booster-Impfung auf die Über-60-Jährigen und Menschen mit Vorerkrankungen zu lenken. „Für gesunde Jüngere ist der zweite Booster zwar aus gesellschaftlicher Perspektive nicht unbedingt nötig. Zum Beispiel bei Mitarbeitern im Gesundheitswesen macht es trotzdem Sinn, weil eben auch die Infektionswahrscheinlichkeit reduziert wird“, sagt Spinner. Sein Appell: „Gerade bei Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe macht der zweite Booster wirklich einen Unterschied und schützt gar vor Tod durch Covid-19!“ Seit Mitte September sind die an die Omikron- Sublinien BA.4 und BA.5 angepassten Impfstoffe zugelassen, sie werden auch von der Ständigen Impfkommission (Stiko) zur Auffrischung empfohlen.
Die große Frage: Wann ist die Pandemie vorbei?
Darüber diskutieren die Experten seit Monaten. US-Präsident Joe Biden preschte bereits vor und erklärte die Pandemie für beendet – auch wenn man immer noch ein „Problem“ mit Covid habe. Ganz formal ist es so: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Pandemie erklärt, sie kann sie auch wieder für beendet erklären. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus sagte Mitte September, ein Ende der Pandemie sei zwar in Sicht, man sei aber noch nicht am Ziel. Vollständige Impfungen der Risikogruppen und regelmäßiges Testen seien weiter wichtig. Für Christoph Spinner hat der Übergang zur Endemie, also zu regional begrenzten Krankheitsausbrüchen, bereits begonnen. Die Impfungen und die hohe Immunkompetenz der Bevölkerung erlauben aus seiner Sicht den Übergang von Covid-19 zu einer endemischen Atemwegserkrankung. Die Inzidenzzahlen, sagt er, hätten ihre Bestimmung für die direkte Ableitung öffentlicher Maßnahmen verloren. Clemens Wendtner fürchtet aber, es werde noch mindestens bis zum nächsten Jahr, wenn nicht länger, dauern, bis sich das Infektionsgeschehen „abkühlt“. „Man wird sich ähnlich wie bei der Grippe an die Auffrischungsimpfungen gegen Corona in Zukunft gewöhnen müssen.“ Er hofft, das künftig eine jährliche Booster-Spritze für besondere Risikogruppen ausreicht.
Und was ist mit der Grippe in diesem Winter?
Schnupfen, Halsweh und Fieber – darüber klagen aktuell viele, selbst wenn der Corona-Test negativ bleibt. Das liegt daran, dass derzeit auch diverse andere Viren zirkulieren. Das RKI verweist aktuell zum Beispiel auf Rhinoviren, die typische Erkältungen auslösen. Und auch die Grippe scheint heuer früh dran zu sein, nachdem sich in den vergangenen Jahren wegen der Infektionsschutzmaßnahmen kaum Grippewellen aufbauen konnten. „Wir sehen bereits die ersten Influenzafälle“, sagt Christoph Spinner. Das ist untypisch, vor der Pandemie schlugen die ersten Fälle in Bayern in der Regel erst im Dezember und Januar auf. Die Grippewelle könnte heuer also heftiger ausfallen als üblich. Auch hier empfiehlt die Stiko eine Impfung ab dem Alter von 60 Jahren. Und Spinner betont: „Auch bei Jüngeren bietet eine Impfung definitiv einen relevanten Schutz vor einer Woche Krankheit mit schweren Grippesymptomen und im Bett bleiben zu müssen.“ DOMINIK GÖTTLER