Berlin – Es war eine Hiobsbotschaft für Zugreisende – und eine Nachricht, die große Sorge um die kritische Infrastruktur in Deutschland auslöst: Am Samstag steht der Bahnverkehr im Norden des Landes plötzlich für rund drei Stunden still. Schuld, das wird noch am selben Tag klar, ist nicht etwa ein technischer Defekt oder ein heftiger Sturm. Der Grund ist Sabotage.
Die Bahn wurde Opfer eines gezielten Angriffs, das machen erst das Unternehmen selbst und wenig später auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing öffentlich. „Es wurden Kabel mutwillig und vorsätzlich durchtrennt, die für den Zugverkehr unverzichtbar sind“, sagt der FDP-Politiker. Ohne sie ging nichts mehr.
Da stellen sich vor allem zwei zentrale Fragen: Wer war das? Und wie verwundbar ist die kritische Infrastruktur hierzulande? Vom Energieversorger über das Krankenhaus bis zum Netz der Deutschen Bahn.
Beim Schutz dieser Systeme gebe es „erhebliche Probleme“, auf die seit Langem hingewiesen werde, sagt der Grünen-Politiker Konstantin von Notz, der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums für die Geheimdienste im Bundestag. „Zum Teil liegt das daran, dass Zuständigkeiten unklar sind.“ Auch Grünen-Chef Omid Nouripour fordert Verbesserungen. „Der Vorfall zeigt deutlich, dass wir drei Dinge tun müssen“, sagte Nouripour. Erstens müsse erheblich in den Schutz kritischer Infrastruktur investiert werden. „Zweitens müssen wir den Zivil- und Katastrophenschutz besser ausstatten, um gut auf Gefahren vorbereitet zu sein. Drittens müssen Polizei und Nachrichtendienste verstärkt den Schutz besonders gefährdeter Anlagen in den Blick nehmen.“ Der SPD-Bundestagsfraktionsvize und Verkehrspolitiker Detlef Müller forderte ein neues Sicherheitskonzept, gemeinsam erarbeitet von Bahn, Bundesverkehrsministerium und den Sicherheitsbehörden.
Mit Blick auf die allgemeine geopolitische Lage seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine warnt auch Bundeswehr-General Carsten Breuer vor zunehmenden Angriffen auf die Infrastruktur in Deutschland. „Jede Umspannstation, jedes Kraftwerk, jede Pipeline kann ein mögliches Ziel sein“, sagte der Befehlshaber des Territorialen Führungskommandos der Bundeswehr der „Bild am Sonntag“. „Wir stellen uns hier im Kommando vor allem auf hybride Bedrohungen ein. Das ist der Zustand zwischen nicht mehr ganz Frieden, aber auch noch nicht richtig Krieg.“
Angesichts der neuen Bedrohungslage forderte Breuer alle Deutschen auf, ihr Verhalten zu ändern. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine habe gezeigt, dass Krieg in Europa wieder möglich sei. Das habe Konsequenzen für jeden Bürger. „Jedem sollte klar sein, dass er sein individuelles Verhalten ändern sollte.“ Das reiche von der mentalen Einstellung bis zur Vorratshaltung zu Hause. Breuer rief aber auch dazu auf, „einen kühlen Kopf“ zu bewahren und „besonnen“ zu sein. Hysterie sei „ein schlechter Ratgeber“.
Wer hinter der Sabotage bei der Bahn steckt, ist bislang noch unklar, so die Behörden. „Wir haben einen Tatort in Berlin-Hohenschönhausen“, sagte ein Sprecher der Bundespolizeidirektion Berlin am Wochenende. „Ein weiterer befindet sich in Nordrhein-Westfalen.“ Aus Sicherheitskreisen hieß es, es seien am Karower Kreuz in Berlin und in Herne in NRW vorsätzlich sogenannte Lichtwellenleiterkabel beschädigt worden. Auch das Backup-System sei damit ausgefallen. Mittlerweile hat in Berlin der Staatsschutz des Landeskriminalamts die Ermittlungen übernommen. Das Bundeskriminalamt hält laut einer Gefährdungseinschätzung, aus der die „Bild“ zitiert, sowohl staatliche Sabotage als auch einen linksextremistischen Anschlag für denkbar. Spekuliert wird derzeit auch über die Frage, ob möglicherweise Insiderwissen aus der Bahn selbst eine Rolle gespielt haben könnte. Die Aktion setze jedenfalls „das Abfließen sensibler Informationen über das Streckennetz der Deutschen Bahn“ voraus, heißt es in der Einschätzung des BKA. Als Indiz gegen Täter aus der linksextremistischen Szene, denen in der Vergangenheit Anschläge gegen die Bahn zugeschrieben wurden, gilt, dass bislang kein Bekennerschreiben aufgetaucht ist.
Sicherheitsexperte Peter Neumann hält auch einen Angriff Russlands auf die kritische Infrastruktur in Deutschland für denkbar. „Russland hat schon ein Interesse daran, in Europa Panik zu verursachen und zu signalisieren, dass es ganz heftig das Leben lahmlegen kann“, sagte Neumann dem Sender RTL. Es sei erhebliches Wissen nötig, um diese Knotenpunkte anzugreifen. „Es gibt aber natürlich keine eindeutigen Beweise. Momentan ist es noch eine Theorie.“
Apropos Russland: Nicht einmal zwei Wochen ist es her, dass insgesamt vier Unterwasser-Lecks an den Pipelines Nord Stream 1 und 2 in der Ostsee festgestellt wurden. Große Mengen Gas traten aus, EU und Nato gehen von Sabotage aus, der Kreml erklärte, dass er einen staatlichen Akteur dahinter vermute. „Die Problematik hat sich mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verschärft“, sagt von Notz mit Blick auf die kritische Infrastruktur.
Für Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) zeigt der Fall, dass die heimische kritische Infrastruktur „jederzeit“ angegriffen werden könne. „Dazu zählen nicht nur Bahnanlagen, sondern beispielsweise auch die Strom- und Wasserversorgung sowie die Telekommunikation.“ Auch Cyberangriffe seien möglich. Zwar gebe es aktuell keine konkreten Hinweise auf bevorstehende Anschläge, Polizei und Verfassungsschutz seien aber höchst wachsam. dg/dpa/afp