Herr Dullien, manche Firmen drohen, dass sie ins Ausland abwandern, wenn jetzt neben den Energiekosten auch noch die Löhne steigen. Ist das nur eine Verhandlungsstrategie oder müssen wir uns Sorgen machen?
Lohnzurückhaltung wird nie ausgleichen können, wenn sich in einem Betrieb die Energiekosten mehr als verdoppeln. Die Preise für Erdgas werden hoch bleiben, damit wird die eine oder andere energieintensive Produktion in Deutschland nicht mehr profitabel sein. In diesen Fällen spielen aber die Lohnkosten eine untergeordnete Rolle. Und: Für die Produktion in Deutschland ist auch wichtig, dass die Nachfrage stabilisiert wird. Das geht nicht ohne Lohnerhöhungen.
Verlieren Arbeitnehmer in Deutschland durch die hohe Inflation gerade Wohlstand?
Deutschland als Ganzes hat durch die massiv gestiegenen Preise für importierte Energie an Wohlstand verloren. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind davon stark betroffen.
Müssen Angestellte auch höhere Löhne bekommen, um die Inflation auszugleichen?
Ja. Die Inflation bringt Haushalte zunehmend in finanzielle Nöte. Und auch aus wirtschaftlicher Sicht sind Lohnerhöhungen richtig: Ohne sie würden die Deutschen insgesamt an Kaufkraft verlieren, was die anstehende Rezession verschärfen würde.
Sollte bei Lohnerhöhungen aus Ihrer Sicht gleich die komplette Inflation ausgeglichen werden? Die lag im September bei zehn Prozent.
Darüber werden die Tarifparteien in den jeweiligen Branchen verhandeln. Mit Blick auf die Gesamtwirtschaft ist allerdings im Moment auch klar: Die durch den Ukraine-Krieg verursachte Teuerung ist so hoch, dass die Tarifpolitik in der Breite nicht kurzfristig die Kaufkraft vollständig ausgleichen können wird. Hier ist der Staat gefragt, mit Hilfen ebenfalls die Kaufkraft der Bevölkerung zu stärken, beispielsweise durch die Gaspreisbremse.
Ab wann sind Lohnforderungen denn zu hoch?
Ob die Lohnentwicklung gesamtwirtschaftlich angemessen ist, zeigt sich nicht an einzelnen Forderungen, sondern an den Lohnabschlüssen über alle Branchen. Solange die Lohnkosten insgesamt nicht aus dem Ruder laufen, waren die Lohnforderungen auch in Ordnung. Das gilt übrigens auch für die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale: Bisher sind die Lohnabschlüsse nicht stabilitätsgefährdend. Auch in den aktuellen Tarifrunden sehen wir keine Anzeichen inflationstreibender Lohnentwicklungen.
Auch Piloten fordern einen Lohnausgleich, viele Normalverdiener schütteln da gerade den Kopf. Verstehen Sie das?
Grundsätzlich müssen auch Gutverdiener wegen der höheren Preise ihren Konsum einschränken, was die Konjunktur dämpft. Wenn man in der aktuellen Lage über Verteilungsfragen diskutieren will, sollte man eher die Frage stellen, warum einige Unternehmen gerade kräftig ihre Gewinne steigern und da niemand nach einer „Nullrunde“ bei den Gewinnen ruft.
Es gibt auch Branchen, die durch hohe Energiekosten selbst stark unter der Inflation leiden. Müssen sich Arbeitnehmer in diesen Bereichen mit Forderungen zurückhalten?
Der Abschluss in der Chemieindustrie ist ein Beispiel dafür, dass die Tarifparteien das berücksichtigen. Man muss sich aber auch klarmachen: Ein oder zwei Prozent mehr oder weniger Lohnplus sind angesichts anderer Faktoren wie der hohen Energiekosten oft gar nicht entscheidend für die Profitabilität von Geschäftsmodellen.
Können höhere Einmalzahlungen als Ausgleich für die gestiegenen Preise eine Alternative sein?
Einmalzahlungen können ein Instrument sein, in der Energiepreiskrise Beschäftigten einen zusätzlichen Ausgleich für die Inflationsbelastung zu zahlen. Solche Zahlungen können aber kein Ersatz sein für normale Tarifsteigerungen, denn auch, wenn die Inflation nächstes Jahr wieder fällt, bleiben die Lebenshaltungskosten ja höher als etwa im Jahr 2021.
Interview: Andreas Höß