München – Der Mensch und die Zeit – das ist eine komplizierte Sache. Von alters her diente die örtliche Sonnenzeit als Taktgeber. Stand die Sonne am höchsten, dann war Mittag. Das entspricht zwar der inneren Uhr des Menschen – ist aber unpraktisch, denn mit jedem geografischen Längengrad ändert sich auch die Sonnenzeit um vier Minuten. Im Jahr 1884 wurden deshalb auf der internationalen Meridiankonferenz in Washington 24 Zeitzonen mit einem Sprung von je einer Stunde eingeführt.
Wenn man so will, begann damit schon die Misere für unsere innere Uhr. Denn nur für jene, die in der Mitte einer Zeitzone wohnen, ist zum Sonnenhöchststand auch 12 Uhr. Wer ganz am Rand wohnt, hat einen Jetlag von einer halben Stunde.
Der Jetlag hat sich in der modernen Welt vergrößert. Früher stand man mit der Sonne auf und ging mit ihr ins Bett. „So lebt keiner mehr“, sagt Professor Thomas Penzel, Schlafmediziner an der Charité in Berlin. „Die meisten Menschen in unserer Gesellschaft haben jede Woche eine Zeitumstellung, weil sie am Wochenende ein bis zwei Stunden länger schlafen und unter der Woche nach Wecker aufstehen. Das nennen wir sozialer Jetlag.“ Je nach Lebensstil ist der soziale Jetlag größer oder kleiner. Oder je nach Beruf. Denn wer nachts oder gar in wechselnden Tag-Nacht-Schichten arbeitet, lebt permanent gegen seine innere Uhr.
Mit der Sommerzeit wird noch eine Stunde Jetlag aufgesattelt. Sommerzeiten gab es immer wieder. Während der Weltkriege oder in der Ölpreiskrise der 70er-Jahre wollte man so Energie sparen. Das gelang zwar nicht, dennoch einigte man sich in der EU 1996 auf eine einheitliche Sommerzeit – weniger um Energie zu sparen, sondern um den gemeinsamen Binnenmarkt zu harmonisieren. Seitdem wird die Uhr Ende März um eine Stunde vor- und Ende Oktober wieder um eine Stunde zurückgestellt – auf Normalzeit, die im Volksmund Winterzeit heißt.
Die Zeitumstellung ist umstritten. Die einen finden sie nur lästig, andere klagen über gesundheitliche Probleme. 2018 gab die EU-Kommission dem Druck der Gegner nach und beschloss, die Zeitumstellung 2021 abzuschaffen. Passiert ist aber nichts. Offen ist auch, welche Zeit es dauerhaft sein soll: Sommer- oder Normalzeit? Entscheiden sollen das die EU-Länder – möglichst in Einigkeit.
Till Roenneberg hat dazu eine klare Haltung. Seit Jahren plädiert er für ein Ende der Sommerzeit. Roenneberg ist Chronobiologe und Professor emeritus am Institut für Medizinische Psychologie der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. „Das Gesündeste ist, wenn man auf die Normalzeit geht“, betont er. Der inneren Uhr des Menschen gelinge es nicht, sich auf die Sommerzeit einzustellen. Die innere Uhr werde von Licht und Dunkelheit gestellt. Bleibe man in derselben Zeitzone, drehe aber an der Uhr, habe das Folgen. „Die Umstellung auf Sommerzeit bedeutet ja nichts anderes als: Wir gehen jetzt eine Stunde früher in die Arbeit. Jeder, der einen Wecker benutzt, weckt sich auf, bevor das Schlafprogramm beendet ist. Das ist, als würde man die Waschmaschine zu früh ausschalten. Sie bekommen sozusagen schmutzige Wäsche im Gehirn.“
Dass die innere Uhr sich nicht anpasst, erklärt Roenneberg so: Wer um sechs Uhr aufsteht, müsste bei der Umstellung auf Sommerzeit biologisch gesehen um fünf Uhr aufstehen. Die innere Uhr müsste also auf früher gestellt werden. „Dafür bräuchte sie viel Licht morgens und wenig Licht abends.“ Mit der Sommerzeit passiere aber genau das Gegenteil. Morgens sei es länger dunkel, abends länger hell. „Das stellt die innere Uhr auf später – egal was auf den Ziffernblättern steht.“ Also ein doppelt negativer Effekt. „Solange Sie einen Wecker brauchen, ist das der Beweis, dass sich die innere Uhr nicht umgestellt hat.“
Beim Verreisen sei das anders, sagt der Chronobiologe. Hier wechsele man real die Zeitzone und damit die Licht-Dunkelverhältnisse. Beispiel USA: Wenn es in Deutschland 18 Uhr ist, ist es in New York erst 12 Uhr, also mitten am Tag. Fliegen wir nach New York, bekommt die innere Uhr um 18 Uhr mitteleuropäischer Zeit also viel Tageslicht – was sie dazu bringt, sich später zu stellen. „Meine innere Uhr kommt langsam in New York an, denn sie bekommt jeden Abend ein verlangsamendes Signal durch das Licht“, erklärt Roenneberg. Damit könne der Körper diesen Jetlag ausgleichen.
Für die Gesundheit, sagt Roenneberg, habe die Sommerzeit Folgen. Studien aus den USA und Russland hätten gezeigt, dass mit einem Leben in falschen Zeitzonen die Risiken für Erkrankungen, inklusive Krebs, steigen. Andere Studien belegten einen Zusammenhang zwischen sozialem Jetlag und Schlafstörungen, Depressionen oder Stoffwechselstörungen wie Fettleibigkeit und Diabetes. Da die Sommerzeit den sozialen Jetlag erhöhe, erhöhe sich das Krankheitsrisiko. „Wir müssen deshalb die Situation herstellen, die für die innere Uhr die beste ist – das ist das ganze Jahr über Normalzeit.“
Andere Wissenschaftler wie Thomas Penzel von der Charité sehen das entspannter. „Da kann man je nach Studie mal was finden, mal nicht. Unter dem Strich ist es nicht eindeutig“, sagt er. Die Effekte seien „nicht von klinischer Bedeutung“. Schon die anderen Licht-Dunkel-Phasen im Winter und im Sommer seien eine natürliche Zeitumstellung. Dazu komme der soziale Jetlag. Die Sommerzeit falle da kaum ins Gewicht. Die Debatte, sagt Penzel, sei weniger eine medizinische als eine politische. „Man sollte darüber gar nicht so viel diskutieren. Abschaffen – oder es lassen, wie es ist.“
Ähnlich sieht es Gregor Eichele, Entwicklungsbiologe und Professor emeritus am Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften in Göttingen. „Die Zeitumstellung ist vielleicht nicht nötig, biologisch spielt das aber keine Rolle.“ Das Licht sei zwar der Haupttaktgeber für die innere Uhr, aber nicht der einzige. Versuche mit Mäusen hätten gezeigt, dass auch veränderte Nahrungszeiten die innere Uhr beeinflussen. Dazu kämen soziale Taktgeber wie Weggehen am Abend. „Es gibt vieles, was die innere Uhr mehr beeinflusst als die Zeitumstellung.“ Der Körper, sagt Eichele, könne sich „auch auf Sommerzeit einstellen“. So wie Penzel sieht er praktische Fragen im Vordergrund: Sollen die Kinder in der Dunkelheit zur Schule? Welchen Einfluss hat die Uhrzeit auf Verkehrsunfälle oder Verbrechen? „Die Frage ist: Wann wollen wir Licht haben?“
Eine Frage, über die Europa sich nicht einig ist. Portugal, Zypern und Griechenland wollen die Zeitumstellung behalten, andere EU-Staaten können sich nicht auf eine Zeit einigen. Island, das Teil des Europäischen Wirtschaftsraums ist, hat im Alleingang dauerhaft auf Sommerzeit umgestellt. Befürchtet wird, dass die Abschaffung sogar eine Reform der Zeitzoneneinteilung erfordern würde, denn bei dauerhafter Sommerzeit würde zum Beispiel im Nordwesten Spaniens die Sonne im Winter erst nach 10 Uhr aufgehen, im Osten Polens bei dauerhafter Normalzeit im Sommer schon gegen 3.30 Uhr. Wäre bei uns dauerhaft Sommerzeit, ginge in München die Sonne im Dezember erst um 9 Uhr auf, wäre dauerhaft Normalzeit, wäre es Ende August schon um 19 Uhr dunkel. Von einer Einigung scheint Europa weit entfernt.
„Die Debatte ist eine politische, keine wissenschaftliche“, beklagt Chronobiologe Till Roenneberg. „Sie findet im faktenfreien Raum statt. Die Politiker wissen, dass das Thema eine 50:50-Sache ist. Das heißt, es kostet Wählerstimmen.“