München – Im Jüdischen Gemeindezentrum am Münchner Jakobsplatz spachteln Handwerker in dieser Woche noch eilig jeden kleinen Riss in den Wänden zu. Die Vorbereitungen für den Festakt zum 90. Geburtstag von Charlotte Knobloch sind in den letzten Zügen. Am Sonntag kommt der Bundespräsident nach München. Auf dem Weg zum Fototermin für dieses Gespräch steigt Knobloch, seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, die Treppen zur Dachterrasse hinauf. Auf die Frage der Fotografin, ob man ihr helfen solle, kommt ein entschiedenes „Nein“. Draußen blickt Knobloch in die Sonne und sagt: „Hätte dieses Wetter nicht während des Oktoberfests sein können?“
Frau Knobloch, Ihr 90. Geburtstag fällt auf einen Schabbat. Der große Festakt steigt am Sonntag, gibt es davor ein kleines Fest mit der Familie?
Der Schabbat beginnt nach dem jüdischen Kalender ja schon zum Sonnenuntergang am Freitagabend. Also waren wir davor schon im engsten Familienkreis zusammen. Außer mir sind drei Generationen da, Kinder, Enkel, Urenkel. Das ist wirklich selten – und es freut mich ganz besonders.
Sie kamen 1932 in München zur Welt – wenige Wochen, bevor Hitler in Berlin zum Reichskanzler gewählt wurde. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit unter dem NS-Regime?
Ich bin sehr behütet in einem bürgerlichen Haus aufgewachsen. Mein Vater war Rechtsanwalt. Ich hatte keinerlei Probleme mit meinem Dasein – bis mir die Hausmeisterin auf einmal verbot, mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft zu spielen, weil ich ein Judenkind sei.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe das zunächst nicht verstanden. Das Wort Jude war für mich noch gar kein Begriff. Meine Großmutter hat versucht, es mir zu erklären: Wir gehen in die Synagoge, die anderen gehen in die Kirche. Und da könne es manchmal Streit geben. Sie sagte, das wird sich wieder legen. Es hat sich nicht gelegt.
Die Ausgrenzung wurde immer stärker.
Ich hatte Klavierunterricht, mein Vater war sehr musikalisch und wollte, dass auch ich mich der Musik nähere. Der Klavierlehrerin wurde aber von der Gestapo gesagt: Wenn sie weiter ein jüdisches Kind unterrichtet, werde sie dasselbe erleben, was die Juden erleben. Sie war am Boden zerstört, wir haben beide geweint. Sie ging. Von da an war mir klar, dass ich abgesondert bin.
Es gab damals viele Unterstützer und Mitläufer, aber auch Momente der Menschlichkeit. So wie an dem Tag, als Ihr Vater verhaftet wurde.
In meiner Erinnerung war es ein schöner Sonntag, wir gingen auf der Theresienwiese entlang, als plötzlich ein Polizeiwagen neben uns hielt. Zwei Männer in Ledermantel und Schlapphut stiegen aus und verlangten die Ausweise, Kennkarten hieß das damals. Im Ausweis meines Vaters stand der Buchstabe „J“ für Jude. Plötzlich zog mich eine Hand von meinem Vater weg, zu einem Kinderwagen. Jemand ging weiter mit mir, während mein Vater kontrolliert wurde. Als wir weit genug weg waren, sagten die Leute zu mir: Geh nach Hause und erzähl, was passiert ist.
Ihr Vater kam aufs Polizeirevier.
In ganz München lief eine Razzia. Mein Vater wurde mit anderen jüdischen Menschen in die Ettstraße gebracht. Drei Männer in SS-Uniform entschieden, wer mit dem Lastwagen nach Dachau weggebracht wird, wie wir später erfuhren. Einer der SS-Männer fragte meinen Vater: Sie kennen mich nicht? Wie sich zeigte, hatte mein Vater ihn mal in einer Rechtssache vertreten, der Mann konnte damals nicht bezahlen. Mein Vater hatte ihm gesagt: Dann bezahlen Sie, wenn Sie es können. Auf dem Polizeirevier sagte der SS-Mann zu ihm: Jetzt kann ich meine Schuld begleichen, gehen Sie nach Hause!
Vor der Deportation ins Konzentrationslager rettete Sie dann Ihre geliebte Großmutter.
Mitglieder der jüdischen Gemeinde mussten die Deportationslisten selbst schreiben, das heißt, ihre eigenen Leute darauf setzen und so in den Tod schicken. Der Vertreter bei uns warnte meinen Vater: Ich muss deine Tochter oder deine Großmutter nennen. Ich war bei dem Gespräch nicht dabei, aber meine Großmutter sagte zu meinem Vater sofort: Ich gehe.
Sie kamen unter dem Decknamen Lotte zu Kreszentia Hummel, der ehemaligen Haushälterin Ihres Onkels, auf einen Bauernhof in Mittelfranken.
Dort habe ich Dinge vorgefunden, die mir so nicht geläufig waren. Es war alles sehr schlicht. Stall im Haus. Bitterkalte Winter. Ich habe einen eingewickelten Backstein aus dem Ofen mit ins Bett genommen, um nicht zu frieren. An den Wänden bildete sich im Winter eine dicke Eisschicht. Ein Kissen meines Vaters blieb mir als Erinnerung an mein altes Leben. Am Anfang dachte ich, es ist ja nicht für immer. Bis ich dann glücklich war, dort zu sein.
Ihre Tarnung flog nie auf?
Der Dorfklatsch hat mich geschützt. Kreszentia Hummel war eine sehr katholische Frau. Die Leute hielten mich für ihre uneheliche Tochter. Der Ortsbauernführer, zugleich ein Cousin von ihr, war darüber so schadenfroh, dass er ganz vergaß, mich nach meinem Namen zu fragen. Kaum zu glauben, aber es war so.
Nach Kriegsende war für Sie klar: Sie wollen Deutschland verlassen.
Ich wusste genau, ich werde in München die Leute wiedersehen, die uns beschimpft und mit Abscheu behandelt haben. So war es auch – nur dass auf einmal alle behaupteten, den Juden geholfen zu haben. Ich wollte erst nach New York, dann lernte ich 1948 meinen Mann Samuel kennen und als Ziel rückte St. Louis in Missouri in den Fokus. Überfahrt, Einreise, Arbeitsplatz – alles war schon geplant. Aber dann kamen die Kinder. Hochschwanger durfte man nicht aufs Schiff. Wir vertagten die Entscheidung immer wieder, die Koffer waren noch gepackt. Schließlich blieben wir doch. Heute bezeichne ich das als großes Glück.
Wie lange hat es gedauert, bis Sie sagen konnten, Deutschland ist und bleibt meine Heimat?
Sehr lange. Erst zur Grundsteinlegung des Jüdischen Zentrums im Jahr 2003 habe ich gesagt: Ich habe meine Koffer ausgepackt.
Das Jüdische Zentrum am Münchner St.-Jakobs-Platz war Ihr Herzensprojekt. Was war das für ein Gefühl, als nach jahrzehntelanger Planung, viel Kritik und einem vereitelten Anschlag von Rechtsextremen zum ersten „Tag der Begegnung“ auf einmal 16 000 statt der geplanten 1000 Besucher kamen?
Ich war so glücklich, als ich diese vielen Menschen gesehen habe. Die Schlange ging bis zur U-Bahn-Station am Marienplatz. Ich hatte mir zuvor große Sorgen gemacht, ob die Münchner dieses Zentrum im Herzen der Stadt akzeptieren werden. Oberbürgermeister Christian Ude musste sich vorher oft die Frage gefallen lassen, warum er da ein „Fort Knox“ mitten in die Stadt stellt. Aber als die Menschen alle kamen, war mir klar, dass es richtig war, aus dem Hinterhof an die Öffentlichkeit zu gehen.
Sie haben immer wieder gesagt: Alles, was ich erreichen will, ist ein normales Leben für Juden in Deutschland. Trotzdem müssen bis heute Synagogen bewacht werden. Was fehlt zur Normalität?
Der Judenhass ist leider immer noch präsent. Ich spreche bewusst von Hass, nicht von Antisemitismus. Antisemitismus hat es immer gegeben, den haben nicht die Deutschen erfunden. Es gibt ihn in fast jedem Land. Aber ich hätte nie gedacht, dass dieser Judenhass wieder so präsent wird. Auch heute gibt es junge Gemeindemitglieder, die ans Auswandern denken, weil sie Angst um ihre Familien haben. Das belastet mich sehr.
Bekommen Sie persönlich viele Anfeindungen?
Es war schon weniger, aber die Pandemie hat die Menschen wieder radikalisiert. Ich bleibe trotzdem Optimistin. Ich hoffe, dass all die Probleme, die wir haben – mit der AfD, mit der BDS-Bewegung oder mit Verschwörungstheoretikern –, irgendwann wieder verschwinden.
In der breiten Bevölkerung gelten Sie als rastlose Mahnerin.
Leider. Der Begriff „Mahner“ impliziert ja, dass man immer wieder dasselbe sagt. Aber andererseits ist es für mich eine Verpflichtung, das, was falsch läuft, auch beim Namen zu nennen.
Haben Sie jemals darüber nachgedacht, in die Politik zu gehen?
Ich bin zweimal in meinem Leben aufgefordert worden, von beiden großen Volksparteien. Aber da war ich noch zu sehr von der Vergangenheit belastet. Ich war nicht bereit. Heute tut es mir leid, dass ich den Schritt nicht gewagt habe.
Welche Hoffnungen setzen Sie in die Jugend? In eine Generation, die für Klimaschutz auf die Straße geht und offenbar wieder politischer wird?
Ich habe großes Vertrauen in die jungen Menschen. Die vielen Gespräche an Schulen zeigen mir: Sie wollen Verantwortung übernehmen. Früher war das Interesse bei Vorträgen eher gering, da wurde Zeitung gelesen, geschlafen, mürrisch geschaut. Heute steht die Pflicht nicht mehr im Vordergrund, es wird diskutiert und sich ernsthaft mit den Ursachen befasst.
Aktuell herrscht Krieg am Rande Europas. Es wird viel diskutiert, wie die einzelnen Länder helfen können. Sollte auch Israel mit seinen modernen Raketenabwehrsystemen die Ukraine unterstützen?
Jedes Land muss sich gerade überlegen, wie weit es sich für die Ukraine engagiert. Wie auch immer die jeweilige Entscheidung ausfällt: Ziel muss ein baldiger Frieden sein. Das wäre mein Wunsch zum Geburtstag – nicht nur mit Blick auf die Ukraine, sondern auf die ganze Welt. Die Rückkehr in eine glücklichere Zeit, in der wir uns alle wieder die Hand geben können. Daran sollten wir arbeiten.
Interview: Dominik Göttler