„Der Kanzler muss nach Lampedusa!“

von Redaktion

VON MANFRED WEBER

Brüssel – Die chaotischen Verhältnisse auf Lampedusa führen auch denjenigen, die bisher konsequent wegschauen, vor Augen: Die EU-Staaten sind in einer neuen Migrationskrise. Als ich zum Jahreswechsel vor dieser drohenden Migrationskrise gewarnt habe und mit der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni europäische Lösungen diskutierte, wurde ich nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin heftig kritisiert. Viele wollten die offensichtliche Herausforderung aus Sorge vor den Demagogen und Radikalen wieder einmal aussitzen.

Für mich ist klar: Wir dürfen die drängenden Themen nie aus taktischen Gründen wegschieben, sondern müssen sie anpacken und lösen. Das ist die wichtigste Aufgabe von Politik. Die Behörden in Südeuropa haben schon seit Langem die Migrationswelle auf Europa zukommen sehen. Allein für Italien prognostizierten sie für 2023 bis zu 300 000 Flüchtlinge – eine Zahl vergleichbar mit den Einwohnern der drittgrößten bayerischen Stadt Augsburg.

Vor jedem europäischen Gipfel hat die christdemokratische EVP zum Handeln gedrängt. Doch Bundeskanzler Scholz und Präsident Macron entschieden sich für das Nichtstun – Macron schloss stattdessen gegenüber Italien die Grenzen. Das Sterben im Mittelmeer wurde dadurch nicht gestoppt, das Problem nur größer gemacht. Man stelle sich die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit vor, wenn wir auf einer deutschen Insel die gleichen unhaltbaren Zustände erleben würden, mit denen die Bewohner von Lampedusa derzeit mit über 6000 Ankommenden jeden Tag konfrontiert sind.

Es wird sehr deutlich, dass wir die Migrationsherausforderung als Europäer nur gemeinsam bewältigen können. Die Migranten wollen ja nicht nach Lampedusa, sondern nach Europa und auch nach Deutschland. Die Grundsätze für eine gemeinsame europäische Migrationspolitik können nur lauten: Humanität, Steuerung und Begrenzung bei der Zuwanderung, entschiedene Kontrollen an der EU-Außengrenze, konsequente Rückführungen und mit aller Härte gegen Schleuser und Schlepper vorgehen.

Führung aus der politischen Mitte heraus ist auch die beste Medizin gegen Radikale. Leider versagt die Ampel-Regierung weitgehend bei der Migrations- und Asylpolitik sowohl in Berlin wie auch in Brüssel. Sie ist ein entscheidender Bremsklotz für eine schnelle Einigung in der EU. Und die zuständige Bundesinnenministerin ist mit ihrem Wahlkampf in Hessen beschäftigt, anstatt diese zentrale Aufgabe zu priorisieren.

Allerspätestens seit 2015 wissen wir, dass Europa ein neues Asyl- und Flüchtlingssystem braucht. Das Dublin-System scheitert, weil es vom nationalen Egoismus ausgehöhlt wird. „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“ – das ist der Grundsatz aller, die eine europäische Lösung ablehnen, von den Rechtspopulisten bis zur politischen Linken. Sie ignorieren die politische Verantwortung vor der geopolitischen Herausforderung der Migrationsströme. Jede Regierung wird kritisiert, wenn sie konsequente Grenzkontrollen durchführen will, sei es die griechische, italienische, österreichische oder auch bulgarische.

Die Grünen haben am Freitag mit ihrem Europawahl-Programmentwurf noch die Krone auf diese Politik gesetzt, wenn sie keine besseren Kontrollmöglichkeiten und mehr Kompetenzen für die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex, sondern stattdessen eine verstärkte Kontrolle von Frontex fordern, als ob in dieser Krise die Grenzbeamten und nicht die Schlepper das Problem wären. Gleichzeitig versuchen die Grünen, die von den europäischen Innenministern gefundene europäische Lösung zur Migrationskrise im Europäischen Parlament zu torpedieren und das Tunesien-Abkommen zu verhindern. Dabei bräuchten wir ähnliche Abkommen mit weiteren EU-Nachbarn.

Wer wie die Grünen notwendige europäische Lösungen bekämpft, ist keine Europapartei. Als Europaparteien haben wir uns als EVP, CDU und CSU europäischen Lösungen verschrieben, weil es die besten Zukunftslösungen sind, wie bei der Schaffung des Binnenmarktes, des Euro oder auch beim Covid-Impfstoff. Heute ist eine funktionierende europäische Migrationspolitik überfällig. Wir brauchen den Migrationspakt, der Grenzkontrollen an der EU-Außengrenzen stärkt, geordnete Asyl-Verfahren an der EU-Außengrenzen einführt, Asylverfahren strafft, Abschiebungen konsequent anwendet und den Missbrauch von Sekundärmigration bekämpft. Gleichzeitig muss das Nachbarschaftsabkommen mit Tunesien zügig abgeschlossen werden, beides noch in diesem Jahr. Hier müssen Olaf Scholz und seine Genossen etwas tun.

Auch die SPD verschleppt im Europäischen Parlament die Zustimmung zum gefundenen Migrationskompromiss. Anstelle von weiteren Sonntagsreden sollte der Bundeskanzler seine SPD auf Kurs bringen und nach Lampedusa und Tunesien fahren und zeigen: Die Migrationspolitik braucht endlich die volle Aufmerksamkeit der politischen Spitze und nachhaltige Lösungen.

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