„Der Iran hat seine Ziele schon erreicht“

INTERVIEW Historiker Wolffsohn über die Gefahr aus Teheran und die Zeit nach dem Nahost-Krieg

München – Der deutsch-israelische Historiker Michael Wolffsohn lehrte lange an der Universität der Bundeswehr München und ist Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zum Nahostkonflikt. Im Interview spricht er über die nahende Offensive der israelischen Armee im Gazastreifen, Szenarien für die Zeit nach dem Krieg und den Antisemitismus auf deutschen Straßen.

Prof. Wolffsohn, ein prägendes Ereignis der Woche war sicher die Explosion an einer Klinik in Gaza. Die arabischen Staaten geben Israel die Schuld, obwohl die Gegenbeweise erdrückend sind. Wendet sich die Stimmung gegen Israel?

Man muss unterscheiden: Innerhalb der Region wird sich am Normalisierungsprozess zwischen Israelis und Arabern nichts ändern, weil die arabischen Staaten nachvollziehbar kein Interesse haben, den ständigen Störenfried, die Palästinenser, zu unterstützen. Der Sturm geht vorbei, die Normalisierung geht nach einer taktischen Pause weiter.

Und außerhalb der Region?

In Europa und den USA war ein Stimmungsumschwung vorhersehbar. Im Krieg sind Bilder Waffen und dass Israels harte Reaktion auf den Hamas-Terror Bilder produzieren würde, die seine politische Position schwächen, war klar. Ganz offensichtlich handelte es sich nicht um eine israelische Rakete, die in Gaza einschlug. Aber für die Proteste, die gerade in Berlin-Neukölln passieren, braucht es keine Fakten, sondern Anlässe, die man je nach politischem Interesse nutzen kann.

Der Kanzler und der US-Präsident waren diese Woche in Israel. Was haben ihre Besuche bewirkt?

Der Besuch des US-Präsidenten war sicherheitspolitisch bedeutsam für Israel, der des Kanzlers eine nette Geste. Gut wäre es gewesen, er hätte dazu beitragen können, einen Fluchtkorridor aus Gaza nach Ägypten zu verhandeln.

Die angekündigte Bodenoffensive in Gaza lässt auf sich warten. Wird es sie geben oder kühlen die Emotionen langsam ab?

Krieg ist ein Instrument der Politik und kein Instrument der Rache. Das strategische Interesse Israels ist klar definiert: Die ständige Gefahr durch die Hamas muss beendet werden. Die Bodenoffensive ist dann eine Frage der Taktik – momentan ist sie offensichtlich noch nicht risikolos genug. Israels Armee nimmt immer Rücksicht auf die eigenen Soldaten und die feindliche Zivilbevölkerung. Ich denke, die Offensive wird es dann geben, wenn die aktuellen Luftschläge die Risiken für Israels Soldaten minimiert haben.

Sie nannten eine Bodenoffensive unlängst einen Fehler und plädierten dafür, Gaza abzuriegeln…

Ich sagte, zum jetzigen Zeitpunkt wäre die Offensive ein Fehler. Im Moment wäre es das Beste, Israel würde neben den Luftschlägen die Versorgung mit Wasser, Elektrizität, medizinischen Gütern und so weiter zumindest für den Norden Gazas sperren.

Das hieße auch, Zivilisten hungern zu lassen. Produziert das nicht genau jene inhumanen Bilder, die auch Israel schaden?

Im Krieg entscheidet nicht die Psychologie von außen, sondern die Fakten auf dem Schlachtfeld. Was in Berlin-Neukölln oder in München am Stachus gebrüllt wird, ist nicht entscheidend. Es gibt ja die klare Aufforderung an die Zivilbevölkerung im Gazastreifen, den Norden zu verlassen und in den Süden zu gehen. Und eine Abriegelung kann auch gezielt, also nur im Norden, durchgesetzt werden. Kommt die Bevölkerung nicht nach Süden, dann ist das von der Hamas zu verantworten. Wenn man die Bilder sieht, muss man fragen, wer sie verursacht hat. Und wer nicht bereit ist, das zu tun, entzieht sich letztlich einer zivilgesellschaftlichen Ethik.

Eine Befürchtung ist, dass der Konflikt größer wird und sich etwa der Iran einschaltet. Wie groß ist diese Gefahr?

So teuflisch die Strategie der iranischen Führung ist, so teuflisch genial ist sie. Der Iran hat seine Kriegsziele schon jetzt erreicht, ohne auch nur einen Schuss abgegeben zu haben. Warum? Das israelische Militär und die israelische Gesellschaft sind schwer getroffen und daher nicht mehr in der Lage, die vorhandenen Pläne einer etwaigen Attacke auf die iranischen Atomanlagen durchzuführen. Es wäre geradezu selbstmörderisch, würde Teheran sich selbst in diesen Krieg hineinziehen lassen für einen Konflikt, dessen Kern, also der Gazastreifen, ihn überhaupt nicht interessiert. Für den Iran ist der Krieg eigentlich vorbei.

Gilt das auch für die Hisbollah im Libanon?

Das gilt auch für die Hisbollah. Es gibt ganz eindeutige Signale aus den Reihen der Hisbollah, die offen sagen, dass sie an einer Eskalation des Konfliktes nicht interessiert seien. Nebenbei: Die Hisbollah könnte Israel massiv stören, aber nicht vernichten. Umgekehrt würde ein Konflikt die Vernichtung der Hisbollah bedeuten. Krieg ist keine Einbahnstraße.

Sie glauben nicht an eine Zwei-Staaten-Lösung, aber die Palästinenser brauchen nach dem Krieg eine Perspektive…

Die Zwei-Staaten-Lösung war nie mehr als eine Sprechblase, sie ist völlig unrealistisch. Wie will man 700 000 jüdische Siedler, ohne einen innerisraelischen Bürgerkrieg zu riskieren, aus dem Westjordanland herausbekommen? Und welche Berechtigung gäbe es dann für israelische Araber, in Israel zu bleiben? Die wollen nicht ins Westjordanland, sondern in Israel bleiben, wo es ihnen besser geht. Politisch ist das nicht durchsetzbar.

Welche Möglichkeiten sehen Sie also?

Dass der Gazastreifen unter israelische Militärverwaltung kommt, ist ausgeschlossen. So etwas erlegt sich Israel nicht noch einmal auf. Anderes wäre denkbar: zum Beispiel eine auch aufgrund der Geografie nahe liegende Anbindung an Ägypten, wie es bis 1967 der Fall war. Der Gazastreifen könnte eine Art Kanton oder ein Bundesland eines Staatenbundes Ägypten-Gaza sein. Weitere Möglichkeit: Der Gazastreifen kommt unter internationale Verwaltung. Es bräuchte zwar jemanden, der das absichert, aber die Idee wäre gut. Sie böte auch die Möglichkeit, den Gazastreifen zu einem Singapur im Nahen Osten zu machen, wie es nach dem Osloer Abkommen 1993 schon mal vorgesehen war. Die Pläne lagen in der Schublade, Investoren standen Schlange – aber die Hamas hat es verhindert.

Was ist mit dem Westjordanland?

Natürlich gäbe es auch die Möglichkeit, eine Verbindung zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland zu schaffen. Dagegen spricht, dass die palästinensische Autonomie unter Abbas und Co. im Westjordanland jedes Vertrauen in der eigenen Bevölkerung verloren hat. Die wahrscheinlichste Lösung dürfte, für eine Übergangsphase, eine Internationalität sein, bis eine gemäßigte palästinensische Führung im dann entmilitarisierten Gazastreifen die politischen Aufgaben übernimmt – mit quasi-staatlichen Aufgaben.

Führte man so den Konflikt nicht eher fort, statt ihn zu befrieden?

Wissen Sie, wenn man etwas machen will, muss man zuerst etwas denken. Die Zwei-Staaten-Lösung ist von Anfang an falsch gedacht worden und konnte deshalb nicht umgesetzt werden. Immer wieder das Gleiche zu versuchen, obwohl es seit 30 Jahren nicht funktioniert, grenzt an Dummheit.

Zum Schluss müssen wir noch über Deutschland sprechen, wo sich Hamas-Sympathie und Israel-Hass auf der Straße entladen. Was empfinden Sie, wenn Sie die Bilder sehen?

Meine Gefühle reichen von größtem Zorn bis Angst, aber all das ist ja überhaupt nichts Neues. Seit 1969 hat man immer wieder die Tatsache ignoriert, dass Deutschland und Westeuropa längst zur Nebenfront diverser nahöstlicher Konflikte geworden sind. Gerade in Berlin wurden ertappte Täter in den vergangenen Jahren oft sehr milde bestraft oder gleich wieder laufen gelassen. Das waren Ermutigungen. Wenn man auf wild antiisraelische Attacken programmiert ist und auf keinen staatlichen Widerstand stößt, wird man das eskalieren. Das ist in den letzten Jahrzehnten geschehen.

Sehen Sie Anzeichen der Besserung?

Wenn sich das nicht bessert, wird es eine massive Auswanderung von Juden geben, wahrscheinlich nach Israel. Deutschland hat die Wahl, ob es 200 000 loyale, friedliche, kompetente jüdische Bürger verlieren will.

Was muss passieren?

Die politisch Verantwortlichen in Berlin sollten sich genauer anschauen, wie es in Bayern zugeht. Das ist keine CSU-Propaganda, sondern einfach die Beobachtung, dass es zu Situationen wie in Berlin in Bayern bislang nicht gekommen ist.

Interview: Marcus Mäckler

Montag, 4. Dezember 2023
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