München – Dass genau hundert Jahre nach der Hyperinflation in der Weimarer Republik die Preise in Deutschland erstmals seit Langem wieder spürbar angezogen haben, ist schon ein komischer Zufall. Denn immer, wenn die Staatsschulden steigen, die Notenpresse schneller rotiert oder die Inflation nach oben zuckt, wird die Hyperinflation als mahnendes Beispiel zitiert. Parallelen kann man derzeit aber nur wenige zu 1923 ziehen. Schon allein, weil wir von den damaligen astronomischen Raten weit entfernt sind. Derzeit liegt die Teuerung bei vier Prozent. Entsprechend harmlos seien die Folgen, sagt der Historiker und Autor Frank Stocker: „Im Herbst 1923 kam es zu Hungerrevolten. Die Menschen zogen aufs Land und suchten verzweifelt nach Essbarem. Wer für seinen Lebensabend gespart hatte, stand 1923 vor dem Nichts. Nichts davon sehen wir heute.“ Auch die Ursachen waren andere: In der Weimarer Republik wurde die Währung gezielt zerstört, heute sind die Treiber der Teuerung die Energiepreise, der Fachkräftemangel und die Lieferkettenprobleme.
Dennoch spukt das Gespenst der Inflation als Dauergast durch Deutschland und prägt Politik und Gesellschaft. Als der Euro kam, wurde er in Deutschland durch die Inflationsphobie sofort zum Teuro, obwohl es keinerlei Belege für hohe Preissprünge gab. Zehn Jahre später wurde der Italiener Mario Draghi mitten in der Staatsschuldenkrise Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), „Mamma mia“, ätzte die „Bild“. „Bei den Italienern gehört Inflation zum Leben wie Tomatensauce zur Pasta!“ Es folgten Jahre, in denen es zwischen Bundesbank und EZB heftig knirschte. Dann in der Nullzinsära, die man für Zukunftsinvestitionen hätte nutzen können, blieben die „schwäbische Hausfrau“ und die „schwarze Null“ die Leitbilder deutscher Haushaltspolitik. Nun sind viele öffentliche Bereiche kaputtgespart.
Doch weshalb prägte die Inflation die Deutschen so? Das hat zuletzt der Historiker Lukas Haffert von der Uni Zürich untersucht. Seine Befunde: Sowohl die Weitergabe über Generationen als auch die Vermittlung in Schulen und durch Institutionen wie die Bundesbank haben die Erinnerung präsent bleiben lassen. Bei Befragungen von 2000 Bundesbürgern stellte Haffert jedoch fest, dass diese die Hyperinflation von 1923 und die Weltwirtschaftskrise von 1929 oft durcheinanderwarfen oder als eine Krise begriffen. Was aber alle wussten: Danach kam Hitler.
„Ohne Hitler kein Inflationstrauma“, so Hafferts These. „Hätte sich die Weimarer Republik auf Dauer stabilisiert, dann würde die Hyperinflation heute wohl eher als wilde Kuriosität gelten und nicht als ein wirtschaftsgeschichtliches Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts.“ Oder wie es der FDP-Politiker Rainer Brüderle 2011 im Bundestag sagte: „Eine Lehre der Geschichte ist: Wenn das Geld schlecht wird, wird alles schlecht.“ Und da ist ja auch etwas dran. ANDREAS HÖSS