Bernau/Rosenheim – „Nachdem Sie im Fall des Skandals rund um die JVA Gablingen Position bezogen haben, werden Sie sich sicherlich auch für die Missstände und Vertuschungen innerhalb der JVA Bernau interessieren.“ Mit diesen Worten beginnt Claudia Jaworski ihr Schreiben an den bayerischen Justizminister Georg Eisenreich. Eine Kopie davon hat sie auch an die Redaktion geschickt – und erhebt schwere Vorwürfe.
Weiter schreibt Jaworski, dass die Missstände im Bernauer Gefängnis dem Bayerischen Landtag seit 2013/ 2014 bekannt seien. Zu diesem Zeitpunkt beschwerte sich ein ehemaliger Häftling über die Versagung medizinischer Versorgung, die er sich laut Aussage der Ärzte auf dem „Hofgang“ besorgen sollte.
„Abgemagert, blass
und verschlossen”
In ihrem Brief nannte Jaworski noch weitere Beispiele. Darunter auch ihren Bruder, der in der JVA Bernau Ähnliches erlebt haben soll. Er war heroinabhängig, wie Jaworski gegenüber der Chiemgau-Zeitung sagte. Und weil ihm von den Ärzten die Substitution, also die Versorgung mit Ersatzmedikamenten, verweigert wurde, und Jaworski ihrem Bruder helfen wollte, versuchte sie zwei Substitutionstabletten in die Anstalt zu schmuggeln. Jedoch flogen sie dabei auf und Jaworski musste sich vor Gericht verantworten.
Nun war eine weitere Verhandlung angesetzt. Jaworski wurde zur Last gelegt, sich wegen Äußerungen der üblen Nachrede strafbar gemacht zu haben. In ihrem Brief an Minister Eisenreich bat Jaworski den Politiker um Unterstützung bei der Aufdeckung von Missständen sowie vor Gericht. Auf Nachfrage im Justizministerium hieß es: Das Schreiben werde geprüft.
Ob tatsächlich üble Nachrede vorlag, sollte bei der Verhandlung am vergangenen Dienstag am Amtsgericht in Rosenheim vor Strafrichter Bernd Magiera geklärt werden. Dafür mussten in der sechsstündigen Verhandlung aber erst erneut die Hintergründe genau dargelegt werden.
Jaworski schildert, dass ihr Bruder 2018 in der JVA Bernau landete. Ein Besuch dort bleibt ihr besonders in Erinnerung. Sie war mit ihrer Mutter in der Anstalt. Ihr Bruder sei „total abgemagert, blass und verschlossen“ gewesen. „Wir haben geglaubt, er ist im Gefängnis sicher vor Drogen, ich habe auf medizinische Versorgung gehofft“, sagt Jaworski während der Verhandlung.
Jaworskis Mutter erklärt vor Gericht, sie wollte wissen, wieso ihr Sohn wieder Geld brauche. Vor allem als die Frage der Frauen kam, was der Arzt zu seinem aktuellen Zustand sage, brach der Inhaftierte sein Schweigen. Er habe gegen die Trennscheibe zwischen den dreien geschlagen und gesagt: „Wir werden hier nicht behandelt. Die Ärzte interessieren sich einen Dreck für uns. Wir werden auf den Schwarzmarkt geschickt.“ Sowohl Claudia Jaworski als auch ihre Mutter schildern vor Gericht so den Ablauf des Besuchs.
Weil sich ihr Bruder gezwungen fühlte, sich selbst zu substituieren, habe es Disziplinarmaßnahmen wie Einzelhaft im „Bunker“ für mehrere Tage oder Einkaufssperren gegeben. Claudia Jaworski wollte daraufhin ihrem Bruder helfen. Sie schmuggelte zwei Tabletten Subutex in die Anstalt. Es folgten eine Anzeige und die Verurteilung von Jaworski im Jahr 2021. Jaworski legte Berufung gegen das Urteil ein, die endgültige Entscheidung ist noch ausstehend.
Nachdem Jaworski erfahren hatte, dass ihrem Bruder die Substitution verweigert werden soll, strebte die Journalistin weitere Recherchen an. Dabei kam sie mit weiteren Ex-Häftlingen in Kontakt, die ihr ähnliche Geschichten über die ärztliche Versorgung in Bernau erzählten. Die Inhaftierten seien beim Wunsch einer Substitution vom Arzt nicht ernst genommen worden und auf den internen Schwarzmarkt auf den Hofgang geschickt worden.
Ein Fall, der sie besonders ergriffen hatte, war ein Häftling, der wegen schwerer Atemprobleme zum Gefängnisarzt ging. Ihm sei ein Röntgenbild verweigert worden. Bevor Jaworski im Gerichtssaal zu erzählen beginnt, bricht sie in Tränen aus. Dann erklärt sie, dass der Mann, nachdem er aus der Haft entlassen wurde, einen Arzt aufsuchte. Es wurde festgestellt, er habe eine Lungenfibrose im Spätstadium. Auch er soll auf den Hofgang geschickt worden sein. Im vergangenen Sommer sei er verstorben.
Ärzte weisen
Vorwürfe zurück
Die beiden Ärzte, die von den Häftlingen genannt wurden, haben bei der Verhandlung auch ausgesagt. Beide sind mittlerweile pensioniert, von ihrer Schweigepflicht hatte sie Jaworskis Bruder entbunden. Der Erste von ihnen teilt vor Gericht mit, er stünde der Substitution sehr kritisch gegenüber, was er den Insassen auch klargemacht habe. Dann habe er diese aber an den Kollegen, den zweiten Arzt, vermittelt, da dieser die nötige Ausbildung hatte.
Der zweite Arzt weist die Vorwürfe zurück. Er habe nie Insassen auf den internen Schwarzmarkt geschickt. „Ich habe die Berechtigung zu substituieren, also substituiere ich auch“, betont er. Der Name des Bruders von Claudia Jaworski habe ihm vor dem Verfahren auch nichts gesagt.
Nach der Aussage des Mediziners ergreift Rechtsanwalt Edgar Siemund das Wort, welcher Claudia Jaworski vertritt. Er bemängelt, wie der Name des Bruders dem Arzt nichts sagen könne, wenn doch in dessen Krankenakte Stempel des Arztes sind. Und noch einen Kritikpunkt hat Siemund: Die Krankenakte, welche die JVA Bernau dem Gericht zukommen ließ, ist seiner Ansicht nach nicht vollständig. Der Inhaftierte sei zuerst ins Gefängnis in Regensburg gekommen, es folgte die JVA Landshut und schließlich Bernau. Doch die Akte zeigt nur den Aufenthalt in der Chiemgauer Anstalt. Siemund hat die vollständigen Unterlagen in Rosenheim dabei und bemängelt, dass es sich bei der Akte um einen „Laufzettel“ handle. Somit sei nicht verständlich, warum die Eintragungen aus den anderen Anstalten fehlen. Das können auch die beiden Ärzte nicht erklären. In der Akte seien auch zwei Urinproben vermerkt, die auf positiven Drogenkonsum hinweisen. Siemund wirft den Ärzten daher vor, zu wenig dafür getan zu haben, um festzustellen, ob der Inhaftierte abhängig ist oder sich selbst substituiert. Es hätte verhindert werden müssen, dass er in den „Bunker“, also unter Arrest in Einzelhaft kommt.
Auch der Bruder von Claudia Jaworski wird zur Aussage geladen. Er schildert ebenfalls den Besuch. Er habe sich von der Familie nicht verstanden gefühlt, daher der Schlag gegen die Scheibe. Er habe sich wütend, aggressiv und depressiv gefühlt. Ebenso berichtet er, dass ihm im Gefängnis beim zweiten Arzt die Substitution verweigert wurde. Vom Arzt sei ihm geraten worden, sich auf dem Hofgang zu beschaffen, was er brauche. Über den genauen Wortlaut des Mediziners sei er sich nicht mehr sicher.
Außerdem geht der Bruder auf Maßnahmen wegen der positiven Urinprobe ein. Darunter der Arrest für 21 Tage. Edgar Siemund sagt hier, dass das Folter sei. Er zeigt dem Richter auch einen Auszug, der Siemunds Worten nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs stütze. Der kalte Entzug gelte hier als Folter.
Kalter Entzug
ist Folter
Im Anschluss an die Befragungen wird das Youtube-Interview gezeigt, das Claudia Jaworski für ihre Aussagen belasten soll. Dann stellt Edgar Siemund mehrere Beweisanträge, welche Aussagen von ehemaligen Häftlingen enthalten. Diese werden aber vonseiten der Staatsanwaltschaft und Richter Magiera abgelehnt, da diese nicht Thema der Verhandlung seien.
Verteidiger Siemund plädiert anschließend für Freispruch seiner Mandantin Jaworski. Die Staatsanwältin beantragt eine Geldstrafe von 20 Tagessätzen von 55 Euro. Außerdem soll Jaworski die Kosten des Verfahrens tragen.
Es kommt jedoch anders: Jaworski wird von Richter Magiera freigesprochen. Die Gebühren des Verfahrens übernimmt der Staat. Seine Begründung: Claudia Jaworski habe nicht leichtfertig die Behauptung ihres Bruders aufgenommen und weitergegeben. Sie habe umfangreiche Nachforschungen betrieben und sich auch um Zeugen bemüht, welche die Vorwürfe bestätigen.