Gute Kunst wirkt wie ein Spiegel. Durch die künstlerische Perspektive sehen wir uns selbst. Dabei werden auch Eigenschaften und Konturen sichtbar, die wir vielleicht am liebsten verdrängen würden. Wie eine Gesellschaft der Kunst begegnet, sie fördert, aber auch ignoriert, bietet uns eine Perspektive auf Eigenschaften, die wir vielleicht sonst nicht gesehen hätten. An diese zwei Dimensionen des Phänomens Kunst wurde ich durch zwei kürzliche Erfahrungen erinnert.
Die erste war ein Besuch in Bayreuth für die mit Spannung erwartete Neuinszenierung von Wagners „Ring des Nibelungen“. Ich fand viele interessante Denkanstöße in der zuweilen radikal unorthodoxen Inszenierung des jungen österreichischen Regisseurs Valentin Schwarz. Meine Begegnung mit der deutschen Wagner-Kultur beschränkte sich aber nicht nur auf das Festspielhaus und den „Ring“.
In der Hoffnung, bei meinem amerikanischen Neffen, der Volkswirtschaft in Kalifornien studiert und für seine Band selbst Musik schreibt, Interesse für Wagner zu wecken, luden wir ihn zum „Lohengrin“ mit seinem vom Maler Neo Rauch entworfenen Bühnenbild ein. Zur Vorbereitung hatte er eine Wagner-Biografie gelesen und sich über Neo Rauch und die Leipziger Schule der deutschen Malerei informiert. Zum Abschluss der Vorbereitungen führten wir ihn ins Richard-Wagner-Museum, das für eine neue Wechselausstellung „VolksWagner“ geworben hatte. Da diese den weitreichenden Einfluss Wagners auf die Populärkultur weltweit untersucht, dachten wir, dass sie bestens geeignet wäre, das Interesse eines jungen Amerikaners für eine überragende Figur der deutschen Kunst zu wecken. Leider wurden wir enttäuscht.
Die Ausstellung erklärte zwar mit zahlreichen Schildern die Exponate, doch keine einzige Beschriftung war auf Englisch. Es gab keinen englischsprachigen Audioguide für die Ausstellung, kein englischsprachiges Programm. Wir hatten gehofft, unserem Neffen für seine Rückreise nach Kalifornien zusätzliche Literatur über Wagner und die Villa Wahnfried in die Hand zu geben, aber der Buchladen des Museums hatte keine englischen Titel.
Was ist die Botschaft? Deutsche Kunst nur für Deutsche? Zufällig standen wir in einer Pause bei der „Götterdämmerung“ in der Nähe eines Verantwortlichen aus dem Museum und wiesen ihn auf die Probleme hin. Seine Antworten überraschten: „Wer sich mit Wagner beschäftigt, sollte Deutsch lernen oder sprechen!“ Wirklich? Man könnte meinen, dass ein Museum, das auf seiner Webseite um internationale Spenden bittet, auch einem internationalen Publikum etwas mehr bieten würde als den Hinweis, dass man Deutsch lernen sollte, ehe man nach Bayreuth kommt! Ich denke, der Steuerzahler – das Museum wird auch vom Freistaat stark unterstützt – hat mehr verdient.
Anders eine Geschichte aus der privaten Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München. Nach meiner Rückkehr aus Bayreuth hat mich der aus den Niederlanden stammende Direktor Roger Diederen durch die Ausstellung „Stille Rebellen – Polnischer Symbolismus um 1900“ geführt. Es ist Diederens großes Verdienst, dass man zum ersten Mal die wichtigsten und zum Teil für die Polen ikonischen Gemälde an einem Ort sehen konnte und zwar in München – und selbstverständlich mit englischen Schrifttafeln. Obwohl bereits seit Jahren in Vorbereitung, war die Ausstellung mit seiner Idee der nationalen Selbstbestimmung in Anbetracht des gegenwärtigen russischen Angriffs auf die Ukraine besonders zeitgemäß.
Umso erstaunlicher, dass die Besucherzahlen weit unter dem erwarteten Niveau lagen und die Ausstellung von deutschen Kunstkritikern wenig besprochen wurde. Warum eigentlich? Interessiert sich niemand für die Kunst jener Länder zwischen Deutschland und Russland, die allzu oft als „Verhandlungsmasse“ der beiden Großmächte gesehen wurden? Herr Diederen, um nicht von der polnischen Kunst zu sprechen, hat mehr verdient.
James Davis ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen.