Zurück in der Goldgrube

von Redaktion

Verdis „Don Carlo“ mit Anna Netrebko zur Eröffnung der Scala-Spielzeit

Die Diva in roter Robe, die durch eine zerbombte ukrainische Stadt zu wandeln scheint. Auf dem anderen Plakat das Gesicht von Anna Netrebko, daneben ein „No“. Hochgehalten wird das von zwei, drei Demonstranten. Und das war es dann schon mit dem Mailänder Protest, der auch deshalb verhallt, weil er über 100 Meter von der Scala entfernt stattfinden muss. Dazwischen: Absperrgitter, eine Phalanx von Polizisten, dazu hochhackige Klunker-Damen nebst ihrer Smoking-Galane, die an den Durchlässen nach ihrer Karte kramen. Am Portal des Opernhauses ist auch das dumpfe Trommeln des Gewerkschaftshäufleins mit seinen CUB-Fahnen nur noch von fern zu hören, ebenso die Rufe der Pro-Palästinenser („Stop Genozide Gaza“).

Saisoneröffnung an der Scala, das war schon immer Ausnahmezustand mit Demo-Garantie. Aber das Haus, dessen künstlerischer Ertrag mit dem weltweiten Ruf nur mehr schwer mithält, hat sich verpanzert. Ab Mittag läuft die Stadt voll, die unter wolkenlosem Himmel in kalter Wintersonne erglüht. Es ist Feiertag, doch Bars, Restaurants und Boutiquen haben offen. Passanten, die am Tag des Stadtheiligen Ambrosius durchs Centro Storico flanieren, müssen wegen der Absperrungen weite Umwege in Kauf nehmen. Für Autofahrer, die den direkten Weg nehmen wollen, haben die Polizisten nur ein Schulterzucken übrig: „Scusi, la Prima della Scala.“

„Don Carlo“ zum glamourösen Spielzeit-Start, das kam schon oft vor. 1868, 1878, 1912, 1926, 1968, 1977, 1992 und 2008 listet die Scala auf. Der 7. Dezember 2023 wird nun, fast exakt 100 Jahre nach der Geburt von Maria Callas, erneut zum Diven-Vehikel. Während Anna Netrebko etwa an der Bayerischen Staatsoper Persona non grata bleibt, darf sie andernorts längst auf die Bühne. In Wien zum Beispiel, auch in der Arena di Verona. Für ihre Elisabetta an der Scala muss sie auf den Gatten verzichten. Yusif Eyvazov, haartechnisch frisch erschwarzt, sitzt im Parkett, Reihe O. Zwei Tage später hat er „Turandot“-Premiere in Neapel – man bleibt also gut dotierter Doppelverdiener.

Wie immer bei der Scala-Inaugurazione leuchten die Displays der Telefoninos auch während der Vorstellung. Vielleicht, weil man sich immer wieder über das aktuelle Jahr vergewissern muss. Ja, es ist tatsächlich 2023, obgleich die Bühne 1963 behauptet. Das szenische Arrangement von Regisseur Lluís Pasqual, Daniel Bianco (Bühne) und Franca Squarciapino (Kostüme) ist ein Ausfall ins Sepiafarbene. In der Mitte ein hoher Zylinder, der sich öffnen, schließen und drehen kann. Der (famose) Chor erstarrt zum Oratorium, das Solo-Personal begnügt sich mit Uralt-Posen. Im Autodafé prunkt eine goldene Ikonostase, in deren Fenstern Elisabetta, König Filippo II. und der Großinquisitor als heilige Dreifaltigkeit. Drei Ketzer, die Muskeln malerisch mit Blutfarbe verziert, werden in die Unterbühne geschubst. Vieles ist ungewollt komisch – und provoziert sogar die Scala-Orthodoxen zu Buhs.

Wo Regie fehlt, müssen sich die Stars mit vokaler Gestik behelfen. Die Netrebko scheint hier zu allem entschlossen. Ihre Elisabetta klingt nach Lady Macbeth. Keine Spielball-Königin, sondern eine energisch Handelnde. Dabei wagt sie auch viel Druck und Dampf, ungeschützte, offene Klänge und Brüche (Callas lässt grüßen). Um dann doch im feinen, hohen Flötenregister ihre Zaubertöne ins weite Rund zu schicken. Ein weites Spektrum wird durchmessen, das ist so riskant wie spannend. Viel kontrollierter, dosierter Elina Garanča als zurzeit beste Eboli. Das betrifft die filigranen Verzierungen, das Farbenspiel, aber auch den Aplomb im „O don fatale“: Dramatik ohne Drastik ist das, ein Fest für Gesangstechniker und Stimmenschlürfer gleichermaßen.

Francesco Meli, der als beherzter, tonlich etwas versteifter Don Carlo im Laufe des Abends flexibler wird, hat da einen schweren Stand. Dafür gibt Luca Salsi mit offen ausgespieltem Pathos einen Posa der guten alten Schule. Michele Pertusi, als Filippo stimmlich schwer ergraut, lässt sich vor dem großen Monolog als indisponiert entschuldigen. Warum Riccardo Chailly ein paar Buhs abbekommt, weiß kein Mensch. Der Chef dirigiert einen Verdi mit großer Ausdrucksvarianz. Zügig im Grundpuls, sehnig und kraftvoll, ohne knallig zu werden. Lyrismen werden geschmackvoll ausformuliert, und manchmal, wie im Duett Posa-Filippo, gähnen auch schwarze Löcher in der Partitur.

Mit Mühe wird der zweite Durchgang der Solo-Vorhänge über die Bühne gebracht. Die Netrebko genießt den Jubel, Bariton Luca Salsi melkt ihn mit ausgebreiteten Armen, nach 13 Minuten ist der Applaus vorbei. Die Gala-Gemeinde strebt zu den Banketten. Rockerin und Multikünstlerin Patti Smith ist darunter, auch Kino-Regisseur Pedro Almodóvar und Schauspieler Louis Garrel. Der iranische Tenor Ramtin Ghazavi setzt sich mit seinem T-Shirt für Frauenrechte in seiner Heimat ein („Woman Life Freedom“).

Entscheidend ist, wer alles nicht kommt: Staatspräsident Sergio Mattarella hatte abgesagt, ebenso Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, angeblich aus Termingründen – oder war’s wegen der Netrebko? Dafür sitzen in der Mittelloge nun der rechtsextreme Senatspräsident Ignazio la Russa und fast daneben die herzlich beklatschte Liliana Segre, 93-jährige KZ-Überlebende und Senatorin auf Lebenszeit. Italienische Politik-Realität – oder dialektischer Humor.

Aufzeichnung

der Premiere in der Arte-Mediathek.

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