Es geht weiter

von Redaktion

Eine großartige „Winterreise“ mit Johannes Martin Kränzle

Mit großer Gelassenheit: Johannes Martin Kränzle. © Monika Rittershaus

Es ist nicht Trauer oder Frustration, auch nicht Weltekel oder Selbstmitleid. Da ist nur eine unsagbare Müdigkeit, die den Wanderer auf diesen Friedhof getrieben hat, vor eine mutmaßlich heruntergekommene, aber voll besetzte Herberge – ein Symbol. „Das Wirtshaus“ ist eines der gefährlichsten Lieder dieses Zyklus. Es verführt zu Pathos, Jammer-Zeitlupe oder Ähnlichem. Bei Johannes Martin Kränzle hören wir: Leere, Ausweglosigkeit, auch ein Schulterzucken. Dieses lyrische Ich kann nicht mehr, will aber nicht bedauert werden. Noch vieles mehr hören wir aus diesen paar Minuten heraus, auch aus den anderen Liedern. Und oft lässt sich nicht genau festmachen, definieren, was. Im Grunde das Beste, was sich über eine Interpretation sagen lässt. Sie wird unfassbar.

Jahrzehntelang hat sich Kränzle mit der „Winterreise“ von Franz Schubert auseinandergesetzt, sie häufig im Konzert vorgetragen. Im vergangenen Herbst ist er mit Pianist Hilko Dumno ins Studio gegangen und hat seine Erfahrungen auf CD geb(r)annt. Auf der Opernbühne ist Kränzle ein Gesamtkunstwerk, einer der intelligentesten Sängerdarsteller unserer Zeit. Mutmaßlich hätte er in Dieter Dorns Ensemble der Münchner Kammerspiele bestehen können, den schauspielerischen Instinkt hat er dafür. Tatsächlich gibt es in dieser „Winterreise“ Stellen, die Puristen zucken lassen. Kurze Lacher, ein klitzekleiner Schluchzer, auch raue, unebene Klänge, ausgerechnet im Schlager des „Lindenbaums“. Theatralisch könnte man das nennen. Ein Problem wäre das aber nur, wenn Kränzle nach Effekten schielte.

In den ersten Nummern der „Winterreise“ scheint Kränzle die Emotionalität fast zu überdehnen. Weit spreizt sich schon das Eröffnungslied zwischen Wut und einem wie verzweifelten Pianissimo. Kränzle gewinnt damit Fallhöhe – und wird doch nie plakativ. Worte, Satzteile werden zwar hervorgehoben, das Belehren gesteht dieser Bariton aber anderen zu. Die „gefrornen Tropfen“ aus dem gleichnamigen Lied lässt er mit seinem Klavierbegleiter fast filmisch abperlen, Singen wird zur stufenlos erweiterten Sprechstimme. Doch der (scheinbare) Naturalismus ist nur Mittel zum Zweck. Was sich hier an Farben und Nuancen eröffnet, könnte fast eine gedämpfte Version des „Erlkönigs“ sein.

Bewundernswert, wie Kränzle ohne Deklamieren alles aus dem Sprechrhythmus deutet. Man höre nur „Rückblick“: Das klingt nach freier, wie spontaner Erzählung und ist zugleich aus dem Abstand und der Draufsicht interpretiert. Identifikation und Reflexion werden eins. Kränzle und Dumno lassen sich von Schuberts Details bei alledem nicht verführen. Die Tempi sind zügig, zuweilen spürt man gar ungewohnte tänzerische Momente. Dumno spielt so plastisch, mit einer solchen feinen, klugen Clarté, dass man denkt: Diese Lieder könnten auch 100 Jahre jünger sein.

Der Wanderer dieser „Winterreise“ hat, so lakonisch er sich äußert, seinen Lebensweg längst begriffen. Das Aufbäumen ist nur vorübergehend. So emotional alles erfühlt ist, so groß ist doch die Gelassenheit. Aber ob der Wanderer am Ziel ist, wenn er dem Leiermann begegnet? Auch weil Kränzle davon im CD-Booklet schreibt, sollte man erwähnen, wann diese Aufnahme entstand: nachdem er zum zweiten Mal die Diagnose Akute Leukämie bekam. Nach einer ersten Stammzellentherapie vor einigen Jahren hatte sich Kränzle zurück ins Leben und in die Karriere gekämpft. Vor der zweiten Therapie nun die Aufnahme dieses Endzeit-Zyklus. Das muss man aushalten können und wollen. Wer mag, kann bei dieser „Winterreise“ daran denken. Und fühlt doch auch, so lakonisch Kränzle den „Leiermann“ enden lässt: Es geht weiter.
MARKUS THIEL

Franz Schubert:

„Die Winterreise“. Johannes Martin Kränzle, Hilko Dumno (Hänssler).

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