München/Berlin – Man ist versucht, sich das Finale der Verhandlungen sehr lebhaft vorzustellen. Aufregung, wild durcheinander rufende Koalitionäre, eine auf den Tisch hauende Kanzlerin. Angeblich wurde wirklich mal geschrien in der Nacht auf Mittwoch, CDU-Mann Volker Kauder soll die CSU angeherrscht haben, endlich nachzugeben. Das Kurioseste aus den Gesprächen beschreibt aber Horst Seehofer: Schweigen. Stundenlang kein Wort.
„So ist das. Das war so“, sagt Seehofer. Vier, fünf Personen seien am frühen Morgen noch im Raum gewesen, „die aber nicht miteinander reden, weil keiner eine Lösung hat und weil man unterschiedlicher Meinung ist. Ich habe dann gerne eine Mandarine oder eine Orange geschält, weil das wenigstens eine Betätigung war, ohne dass man begründen muss.“
Der CSU-Chef schält Obst, die Kanzlerin und die SPD-Delegation schweigen sich an – es ist ein aberwitziges Szenario, das Seehofer diese Woche in einem außergewöhnlichen BR-Interview schilderte. Mehrere Unterhändler bestätigen das und nennen Details. Es lohnt sich, noch mal auf die Nacht zu blicken, in der das Land vielleicht eine Regierung gefunden hat. Denn es zeigt, wie banal Politik oft ist.
Zur Erinnerung: Ab Dienstagnachmittag waren die Inhalte zwischen CDU, CSU und SPD weitgehend unstrittig, ab dem Abend ging es um die Verteilung der Ministerien. Dabei verkeilten sich die drei Parteien so schwer, dass die komplette Koalition fast daran gescheitert wäre.
Welche Partei welches Ressort bekommt, wird im Streitfall eigentlich reihum entschieden – ungefähr wie die Mannschaftswahl in der Schulturnhalle. Jede Seite zieht abwechselnd ein Ministerium. Die CDU wollte das Kanzleramt, also darf als nächster Partner die SPD ziehen, dann die CSU. Von Anfang an beharrte die SPD-Delegation aber darauf, ohne Wenn und Aber drei wichtige Ministerien zu bekommen: Finanzen, Außen und Arbeit/Soziales. Anders gebe es keine Chance, den SPD-Mitgliederentscheid zu überstehen. Eines dieser drei Ressorts, angeblich in dieser Reihenfolge, wollte aber auch Seehofer für sich. Keine Seite gab auch nur einen Millimeter nach.
CDU-Chefin Angela Merkel und Seehofer boten der SPD irgendwann an, zwei Ministerien auf einmal ziehen zu dürfen. Finanzen? Und Außen? Zwei waren den Sozialdemokraten aber nicht genug, denn dann hätte die CSU ja das dritte bekommen. Hin und her wogten die Verhandlungen, immer wieder zogen sich die Parteien zurück. Keine Lösung in Sicht.
Zweimal, so schilderte es Seehofer intern vor Abgeordneten, habe er daraufhin angeboten – je nach Sichtweise: angedroht –, gar nicht in die Bundesregierung einzutreten. Landesgruppenchef Alexander Dobrindt brachte ihn davon energisch ab: „Nicht akzeptabel!“ Auch Merkel redete auf Seehofer ein, in ihr Kabinett zu kommen.
Es wurde Mitternacht, kein Kompromiss. SPD-Chef Martin Schulz verlor die Geduld: „Jetzt ist Schluss“, soll er in die Runde gerufen haben. Die Bundeskanzlerin bat mit all ihrer verbliebenen Autorität zu einem klärenden Gespräch, vielleicht zum letzten – wieder keine Lösung. Um 2 Uhr früh rief die SPD ihre Vizechefs aus den umliegenden Hotels zusammen, um notfalls das Scheitern der Verhandlungen zu beschließen. In jenen Stunden soll Andrea Nahles, die SPD-Fraktionschefin, weinend auf einem Flur gestanden sein, Genossen trösteten sie. Seehofer bestätigt im BR, dass es Tränen gab: „Warum soll jemand mal nicht heulen, wenn ein Lieblingsthema einfach nicht einigungsfähig ist?“
Andere Unterhändler verloren derweil den Kampf gegen den Schlaf. Sie seien sekundenweise weggenickt, schildert Seehofer, Minister und Ministerpräsidenten legten sich sogar auf den nackten Boden und schliefen ein. Gesundheitsminister Gröhe fand zumindest eine Couch. Sie dürften aufgewacht sein, als Kauder laut „SZ“ die CSU angebrüllt hatte, wenn sie nicht endlich nachgebe, werde er rausgehen und sagen, die Koalitionsverhandlungen seien an der CSU gescheitert.
Seehofer und Merkel trieb in der Tat die Angst um: Was sagen die Menschen, wenn die Regierung nicht an Inhalten, sondern an Posten scheitert? In einem dramatischen Appell sollen sie, so schildert ein Ohrenzeuge, Schulz und Nahles zur Verantwortung gerufen haben. Die Sozialdemokraten erzählen das genau andersrum. Sie hätten gedroht, den Raum nicht zu verlassen, bis es eine neue Regierung gebe. Was auch lustig ist angesichts des Verhandlungsorts – die CDU-Zentrale.
Um 6 Uhr startete die CSU einen letzten Anlauf. Dobrindt entwarf den Plan, die Reihum-Zieherei sein zu lassen. Die CSU verlangte auf einen Schlag auch drei Ministerien. Er entwickelte zwei Modelle: Entweder ein Superministerium für Wirtschaft und Irgendwas – oder ein Innen-, Bau- und Heimatministerium. In einer Vierer-Runde entschieden Seehofer, Dobrindt und die Generalsekretäre Andreas Scheuer und Markus Blume: Es wird ein erweitertes Innenressort.
Also vierte Wahl, ein Innenministerium aus der Not? Seehofer dementiert das nicht mal, im Gegenteil. Er sei ja auch 2008 „aus der Not“ Ministerpräsident geworden.