Moskau – Vor den Toren Moskaus ist die Erinnerung an den deutschen Überfall auf die Sowjetunion vor 80 Jahren so lebendig wie nirgends sonst in Russland. Ein abgestürztes Flugzeug der Wehrmacht – ein Nachbau – steckt im Schlamm zwischen Schützengräben, auf Panzern klettern Kinder, es gibt Schießstände und ein gebrandschatztes Dorf.
An dem historischen Ort ist nicht nur die Schlacht der Roten Armee vor Moskau im Dezember 1941 gegen die Wehrmacht in Teilen nachgestellt. Der vom Verteidigungsministerium aus dem Boden gestampfte „Patriot-Park“ beherbergt auch das größte Kriegsmuseum des Landes. Hier wird mit modernster multimedialer Technik an die Schrecken des Großen Vaterländischen Krieges erinnert, wie der Teil des Zweiten Weltkrieges in Russland offiziell heißt.
Am 22. Juni 1941 überfiel Hitler-Deutschland die Sowjetunion. 27 Millionen Todesopfer gab es bis 1945 – so viele wie in keinem anderen Land. Hitler setzte mit dem Russland-Feldzug seinen rassenideologischen Vernichtungskrieg gegen die slawischen Völker fort. „Er wollte den jüdischen Bolschewismus auslöschen“ – verkörpert in der UdSSR, sagt der Experte Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut (DHI) in Moskau. Monatelang rückte die Wehrmacht vor, bevor sie im Dezember 1941 ihre erste Niederlage erlitt, die Schlacht von Stalingrad war Anfang 1943 der endgültige Wendepunkt.
Als Operation Barbarossa ging Hitlers Überfall in die Geschichte ein – eine Attacke, auf die die Sowjetunion nach dem Nichtangriffspakt mit Deutschland nicht gefasst war. Doch heute wird in Russland über mögliche Versäumnisse Stalins, die Verhinderung einer solch großen Zahl an Opfern, meist geschwiegen.
„Die Frage der Opfer wird zunehmend ausgeblendet“, sagt Uhl. „Alles richtet sich vielmehr auf den Sieg über Hitler-Deutschland. Das ist heute die wichtigste Klammer, die die Gesellschaft zusammenhalten soll.“ Russlands Kinoindustrie produziert ein Epos nach dem anderen über sowjetische Kriegshelden. Der Experte spricht von einer Art „Geschichts-Happening“ und „Disneysierung des Erinnerns“.
Menschenrechtler beklagen, dass jene, die kritische Fragen stellen, etwa zum Massaker der Sowjets an polnischen Offizieren in Katyn 1941, sich schnell an den Pranger gestellt sehen. Unlängst stellte das russische Parlament etwa die Beleidigung von Veteranen oder Vergleiche der Hitler- mit der Stalin-Diktatur unter Strafe.
Den Ton gibt vor allem Wladimir Putin an. Der Präsident beklagt immer wieder Tendenzen einzelner Länder, das Andenken an die Rote Armee, die Europa maßgeblich von den Faschisten befreite, in den Schmutz zu ziehen. Polen, Tschechien und die baltischen Länder etwa sehen sich da in der Kritik.
Deutschland dagegen genießt in dem Fall die Wertschätzung der russischen Führung, weil die Erinnerung an die Opfer der Roten Armee vielerorts wachgehalten wird. Allein in Deutschland gibt es nach russischen Angaben 40 000 sowjetische Soldatengräber.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nennt den 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion einen „Anlass für Scham“. In einem Video-Podcast sagt sie: „In Demut verneigen wir uns vor den wenigen heute noch lebenden Überlebenden dieses Angriffskriegs.“ Deutschland sei „zutiefst dankbar, dass so viele dieser Menschen uns die Hand zur Versöhnung gereicht haben. Dass sie dazu bereit waren, grenzt an ein Wunder, nach allem, was Deutsche ihnen angetan haben.“
Ein gemeinsames prominentes Erinnern zum Jahrestag auf höchster Staatsebene gibt es heuer nicht. Zu massiv scheinen die Spannungen zwischen Berlin und Moskau. Merkel wird im Podcast deutlich: „Wenn friedliche Demonstranten und missliebige Oppositionelle weggesperrt werden, belastet das unsere Beziehungen schwer.“ Der Dialog mit Russland solle aber weitergehen.