München – Natürlich ist der Zeitpunkt alles andere als Zufall. Am Dienstagabend kündigt Moskau eine Rede von Präsident Wladimir Putin an, auch Verteidigungsminister Sergej Schoigu soll sprechen. Im fernen New York kommen da gerade die Spitzen der Welt zur UN-Generalversammlung zusammen (siehe Seite 3) und es sieht so aus, als wolle Putin die Gelegenheit für einen großen Schlag nutzen. Macht er mobil? Schickt er die Russen in den Krieg, jetzt, da in der Ukraine eine Niederlage droht? Darüber wird seit Tagen spekuliert. Am Dienstagabend aber passiert erst mal lange: nichts.
Die Rede – angeblich längst aufgezeichnet – verzögert sich erst um Stunden, wird schließlich auf Mittwoch verschoben. Warum genau, das bleibt unklar. Aber irgendwie passt das Chaos zu diesem hektischen Tag, an dem Russland und seine Vasallen den Krieg in der Ukraine noch etwas mehr eskalieren lassen.
Nicht militärisch, jedenfalls noch nicht. Stattdessen kündigen vier von Moskau besetzte ukrainische Regionen an, über den Anschluss an Russland abstimmen zu lassen. Neben Donezk und Luhansk im Osten sind das die Regionen Cherson und Saporischschja im Süden des Landes. Schon am Freitag soll es losgehen, fünf Tage soll abgestimmt werden. Denis Puschilin, Anführer der Separatisten in Donezk, drängt Moskau noch am Dienstagabend, den Anschluss nach dem Referendum schnell umzusetzen.
Dass es sich um legitime Abstimmungen handelt, dürfte nicht mal Puschilin glauben. Es handelt sich um Scheinreferenden, weil sie ohne Zustimmung der Ukraine, unter Kriegsrecht und nicht nach demokratischen Prinzipien ablaufen. Auch eine freie Arbeit internationaler unabhängiger Beobachter ist nicht möglich. Ähnlich war es 2014 auf der Krim.
Auch diesmal, sagen Beobachter, wolle der unter Druck geratene Kreml einen Vorwand haben, um die ukrainischen Gebiete zu schlucken – und den Krieg weiter zu eskalieren. Schlösse sich etwa der Donbass Russland an, dürfte Putin ukrainische Angriffe als Attacken auf russisches Gebiet werten. Das wäre die nötige Rechtfertigung für eine Generalmobilmachung.
Noch am Dienstag gibt der Putin-treue belarussische Diktator Alexander Lukaschenko einen Hinweis: Er ordnet die Mobilmachung aller Sicherheitsorgane an und bereitet sein Land auf ein mögliches Kriegsrecht vor. Kurz zuvor hat die russische Staatsduma die Strafen etwa für desertierende Soldaten verschärft – als Vorbereitung auf Kriegsrecht und Generalmobilmachung? Letzteres gilt vor allem nach den russischen Niederlagen in der Ostukraine als möglich, wenn auch innenpolitisch heikel für Putin.
Der sucht nun erst mal mit den Blitz-Annexionen die Flucht nach vorne. Kiew reagiert relativ gelassen – die Drohung ändere nichts, twittert Außenminister Dmytro Kuleba. Die internationale Gemeinschaft in New York formuliert schärfer. Der Bundeskanzler, Frankreichs Präsident, die EU-Kommissionschefin, der Nato-Generalsekretär und das Weiße Haus erklärten die Referenden inhaltlich einhellig für nicht akzeptabel und irrelevant. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron spricht von einer „Parodie“ und „weiteren Provokation Moskaus“. Er wolle in den nächsten Tagen mit dem russischen Präsidenten Putin darüber sprechen.