Berlin – Als Angela Merkel noch Kanzlerin war, lag oft eine heikle Anspannung über Terminen, bei denen es um ihren Vorvorgänger ging: Helmut Kohl. Zu beschädigt war das Verhältnis, seitdem sie 1999 als Generalsekretärin ihre Partei aufgefordert hatte, sich wegen der CDU-Spendenaffäre von Kohl zu lösen. Am Dienstagabend spricht Merkel in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt – und da erscheint vieles leichter. Es ist die erste Veranstaltung der 2021 eingerichteten Kanzlerstiftung des Bundes für den 2017 gestorbenen Kohl, die auch noch ein alter Streit verfolgt. Merkel erinnert sich persönlich wie selten an Kohl.
Es soll ein „Schlusswort“ sein, zu dem die 68-Jährige am Ende des Programms auf die kleine Bühne geht. Anlass der Veranstaltung ist die Wahl Kohls zum Kanzler im Bundestag vor 40 Jahren nach dem Sturz des SPD-Amtsinhabers Helmut Schmidt über ein konstruktives Misstrauensvotum. Die Parteispendenaffäre bleibt unerwähnt.
Merkel beginnt mit ihrem „Kennenlerngespräch“ mit Kohl während des Wahlkampfes zum ersten gesamtdeutschen Bundestag im Herbst 1990, als ihr Politikerleben begann. „Für mich war nahezu alles neu, ich musste unendlich viel lernen, und so wurde ich zu einer neugierigen Schülerin von Helmut Kohl.“ Sie habe sich akribisch vorbereitet, doch bei dem Gespräch im Bonner Kanzleramt habe Kohl dann nur eine Frage an sie gehabt: „Wie verstehst Du Dich mit anderen Frauen? Er duzte ja andere gerne einfach so.“ Kurz darauf war die junge Merkel Bundesministerin für Frauen und Jugend.
Eine Lehre für sie lasse sich in einem inzwischen legendären Satz Kohls zusammenfassen, berichtet Merkel: „Entscheidend ist, was hinten rauskommt.“ Soll heißen, um Ziele durchzusetzen, sei ein Gespür für das richtige Timing entscheidend. „Nicht zu spät, aber – das wird manchmal auch zu gering geschätzt – auch nicht zu früh.“ Kohl habe gewusst, dass auch Umwege nötig seien, das Ziel aber nie vergessen. Als Beispiel nennt Merkel Kohls Tischrede beim Besuch von Erich Honecker 1987 in Bonn, die „eine Sternstunde politischer Staatskunst“ gewesen sei: menschlich nicht verletzend, aber unmissverständlich in der Aussage – dem prinzipiellen Festhalten am Ziel der Einheit im Einverständnis mit den Nachbarn. Sie habe es im Fernsehen gesehen und erinnere sich „mit Gänsehaut“ daran.
„Angesichts des heutigen Krieges Russlands gegen die Ukraine können wir uns gar nicht glücklich genug schätzen, welch unglaubliche Konstellation der Weltgeschichte uns 1989/90 diese Entwicklung ermöglichte“, hält Merkel fest. Und kommt dann auf die große Krise zu sprechen, die jetzt ihren Nachfolger Olaf Scholz (SPD) fordert.
Sie denke, Kohl würde heute „alles daran setzen, die Souveränität und die Integrität der Ukraine zu schützen und wiederherzustellen“, sagt Merkel. Zugleich habe er in derartigen Fragen von Krieg und Frieden nie „den Tag danach“ aus dem Blick verloren. Auf heute übertragen würde Helmut Kohl „parallel immer auch das im Moment so Undenkbare, schier Unvorstellbare mitdenken – nämlich wie so etwas wie Beziehungen zu und mit Russland wieder entwickelt werden können“, sagt Merkel. Und beides natürlich niemals in einem deutschen Alleingang. SASCHA MEYER