Wie weit geht Putin noch?

von Redaktion

VON KLAUS RIMPEL UND LEONIE HUDELMAIER

München/Kiew – Dem ukrainischen Militär ist bei seiner Offensive ein weiterer wichtiger Gegenschlag gelungen. In der Südukraine konnten die ukrainischen Soldaten nach eigenen Angaben weitere Ortschaften von russischen Truppen befreien. Der Chef des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, schrieb gestern beim Nachrichtendienst Telegram von fünf Orten, die zurückerobert worden seien. Im Internet kursierten Videos aus dem lang umkämpften Dorf Dawydiw Brid und den Ortschaften Welyka Olexandriwka und Starossillja am Fluss Inhulez. Auch in Dudtschany am Fluss Dnipro sollen die ukrainischen Einheiten eingerückt sein.

Auch die Teilmobilmachung, die seit dem 21. September läuft, scheint für den russischen Präsidenten Wladimir Putin alles andere als nach Plan zu laufen. Laut britischer Militärexperten soll der russische Staat nicht mehr in der Lage sein, ausreichend Ausrüstung und militärisches Training für eine große Zahl an Rekruten bereitzustellen. Ein Anzeichen dafür: Der Einberufungszyklus in diesem Jahr beginnt einen Monat später als üblich, erklärte das britische Verteidigungsministerium gestern. Die jährliche Einberufung von etwa 120 000 Wehrpflichtigen in Russland unterscheide sich von der kürzlich beschlossenen Teilmobilmachung von Reservisten. „Die Herausforderungen für Unterbringung, Training, Ausrüstung und Einsatz von mobilisiertem und einberufenem Personal sind erheblich“, schlussfolgerte das Ministerium. Seit der Teilmobilmachung sind bereits mehr als 200 000 russische Staatsbürger ins Nachbarland Kasachstan eingereist, wie das russische Innenministerium selbst mitteilte.

Diese russischen Rückschläge schüren die Angst, dass Putin in seiner Verzweiflung auch auf Atomwaffen zurückgreifen könnte. „Die Signale der letzten Tage lassen darauf schließen, dass Putin nach den herben Rückschlägen, die seine Streitkräfte in der Ukraine einstecken mussten, gezielt das Risiko einer Eskalation über die nuklearen Grenzen hinweg erhöht hat“, sagte auch Dr. Frank Sauer, Strategie-Experte an der Bundeswehr-Uni in Neubiberg unserer Zeitung.

Aber das sei kein Grund zur Panik. „Putin dürfte wissen, dass die ihm aufgebürdeten Kosten nach dem Einsatz einer Nuklearwaffe den Nutzen dramatisch übersteigen würden“, erklärte Sauer. Hilfreich sei nun, „dass die USA gerade sehr klare Abschreckungssignale an Putin senden, sollte er wirklich Anstalten machen, die nukleare Grenze zu überschreiten“.

Mit der Teilmobilmachung hatte Putin angekündigt: „Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht ist, werden wir natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen, um Russland und unser Volk zu verteidigen.“ Er fügte hinzu: „Dies ist kein Bluff.“

Doch wer könnte in Moskau überhaupt einen Atombomben-Einsatz anordnen? „Es gibt in Russland drei ,nukleare Koffer‘, mit denen die Nuklearstreitkräfte befehligt werden können. Einer ist stets in der Nähe von Präsident Putin, einer ist beim Verteidigungsminister Sergej Schoigu und einer beim Generalstabschef Waleri Gerassimow“, sagte der Strategie-Experte Sauer. Zwar gab es eine Weile die Annahme, dass Putin für einen Atomschlag die Zustimmung von zumindest einem weiteren „Kofferbesitzer“ benötigt, doch neue Erkenntnisse widerlegen das wohl. „Laut den jüngsten Äußerungen von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin scheint Putin wohl tatsächlich alleine entscheiden zu können“, sagte Sauer.

Doch auch wenn Putin zum äußersten Mittel greifen würde, geht Sauer fest davon aus, dass „auf eine taktische Nuklear–Waffe keine nukleare Antwort“ des Westens käme. Putin würde man vielmehr „international komplett isolieren“. Denn auch China und Indien würden sich von Russland abwenden.  mit dpa

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