Seenotretter unter Verdacht

von Redaktion

VON MARC BEYER

München – Die Zahlen sind so aktuell wie bedrückend. Bis Ende September sind nach einer Erhebung des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in diesem Jahr bereits rund 186 000 Menschen über das Mittelmeer in Europa angekommen, ein Anstieg von 83 Prozent gegenüber 2022. Ebenfalls deutlich zugenommen hat die Zahl der Toten und Vermissten. Mehr als 2500 Personen, die in Nordafrika aufgebrochen waren, kamen nie an.

Ruven Menikdiwela, Leiterin des UNHCR-Büros in New York, sprach bei der Vorstellung der Zahlen dringende Empfehlungen aus. Die Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer müssten ausgeweitet werden, die beteiligten Schlepper strafrechtlich verfolgt.

Das klingt, als seien Helfer und Schlepper die zwei Extreme, zwischen denen sich die Flüchtlinge im Mittelmeer bewegen. Ein Ermittlungsbericht der italienischen Justiz zeichnet allerdings ein anderes Bild. Die rund 650 Seiten starke Akte, aus der „Focus Online“ zitiert, kommt zu dem Ergebnis, dass Seenotretter mit Menschenschmugglern kooperieren. Die Ermittler stützen sich dabei auch auf Bilder und Videos, die zeigen sollen, wie sich Helfer und Schleuser auf dem Meer treffen und Migranten geordnet auf die Boote westlicher Organisationen übersetzen lassen. Von akuter Seenot ist auf den Aufnahmen nichts zu sehen.

Der Ermittlungsbericht stammt aus dem Jahr 2020 und beruft sich auf Belege, die von einer Razzia Ende 2017 stammen. Im Fokus stehen die Berliner Organisation „Jugend Rettet“ und das britische Pendant „Save the Children“. In beiden Fällen soll es vor der libyschen Küste Absprachen mit Menschenhändlern gegeben haben, bei denen die Übergabe von Bootsflüchtlingen geklärt wurde. Die Justiz unterstellt den Gruppen, „ein komplettes System zur Organisation, Erleichterung und Unterstützung der illegalen Einwanderung auf der Grundlage von Schiffen entworfen“ zu haben.

Vorwürfe, Retter machten mit Schleusern gemeinsame Sache und förderten so deren Geschäft, hat es schon häufiger gegeben. Auch dass die Justiz Italiens, das wie kein anderes Land in Europa von Bootsflüchtlingen angesteuert wird, aktiv gegen Organisationen vorgeht, ist nicht neu. Der aus deutscher Sicht bekannteste Fall ist der der Berliner Aktivistin Carola Rackete, die mit einem Boot ohne Genehmigung einen Hafen ansteuerte und mehrere Tage im Hausarrest verbrachte. Aktuell wogt zwischen Rom und Berlin ein heftiger Streit um die finanzielle Unterstützung der Bundesregierung für Seenotretter im Mittelmeer.

Gegenüber dem „Focus“ wehrt sich „Save the Children“ gegen die Vorwürfe, mit Kriminellen an einem Strang gezogen zu haben. Man weise „jede Andeutung zurück, dass wir wissentlich mit Schleusern kommuniziert oder sie unterstützt haben, und wir verurteilen ihr Verhalten öffentlich“.

Ähnlich entschieden äußern sich deutsche Gruppen. Die Regensburger Organisation Sea-Eye erklärt gegenüber unserer Zeitung, „zu keinem Zeitpunkt“ habe es „Kooperationen oder Kommunikation mit Schleppern“ gegeben. Deren Tätigkeit stehe „diametral zu unserem Interesse, dass niemand auf dem Meer ums Leben kommt“. Gorden Isler, der Vorsitzende von Sea-Eye, hält es „grundsätzlich nicht für denkbar“, dass zivile Helfer und kriminelle Schlepper gemeinsame Sache machen. Auch Axel Steier von „Mission Lifeline“ widerspricht vehement: „Unsere ethischen Standards verbieten es, mit Schleusern zu kooperieren.“

Die massenhafte Flucht Richtung Italien hält unterdessen an. Aktuell seien allein sieben Schiffe auf dem Weg nach Lampedusa, einige davon unter deutscher Flagge, sagte Außenminister Antonio Tajani der Zeitung „La Repubblica“, kurz nachdem es in den Verhandlungen über eine EU-Asylreform erneut gehakt hatte. „Das kommt mir wirklich seltsam vor. An dem Tag, an dem über einen möglichen EU-Pakt verhandelt wird, kommen all diese Schiffe.“

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