München – Im Zentrum des Wirbelsturms ist es manchmal ganz ruhig. Die Ampel hat einen verheerenden Wahlsonntag hinter sich. Mal wieder. Die FDP scheint am Montagmorgen besonders zerzaust. In Bayern raus, in Hessen gerade noch den Wiedereinzug in den Landtag geschafft. Aber Christian Lindner verzieht keine Miene. Zuletzt hatte es an vergleichbaren Morgen geheißen, die Liberalen müssten ihr „Profil schärfen“. Diesmal verfolgt Lindner eine neue Strategie. Die Ampel müsse sich unterhaken. Gemeinsam soll es rausgehen aus der Krise.
Wie bitte? Die zerstrittene Regierung mit einheitlicher Strategie? Nachdem Lindners Generalsekretär Bijan Djir-Sarai noch am Vorabend erklärt hatte, man müsse analysieren, „ob wir überhaupt ein gemeinsames Verständnis entwickeln können“?
Doch der FDP-Vorsitzende hat sich den Wahlabend genau angesehen. Er zählt die entscheidenden Themen auf: wirtschaftliche Entwicklung, die Eindämmung von Migration, eine Klima- und Energiepolitik mit Augenmaß und der „Wunsch, dass der Staat nicht weiter bürokratisiert und mit Verboten ins Leben der Menschen eingreift“. Lindners Fazit: „Das sind Themen der FDP – die aber nicht zur Wahl der FDP geführt haben“. Sein Schluss daraus: „Die Parteien der Ampel werden nicht individuell bewertet, sondern die Ampel als Ganzes wird von den Menschen beurteilt.“ Es geht also nur gemeinsam.
So oder ähnlich klingt es am Montag überall. Schuldbewusst. Kleinlaut. Und ein wenig ratlos. Die Regierungskoalition müsse „besser werden“, sagt SPD-Chefin Saskia Esken. Im Dezember feiert die Koalition Halbzeit, kein Anlass für eine Party. Für 20. Oktober ist ein Koalitionsausschuss angesetzt. Dort könne ein Prozess beginnen, wie man künftig wenig zerstritten in Erscheinung trete, hofft Lindner.
Klingt gut. Aber ist es auch realistisch? Das große Thema der nächsten Wochen dürfte Migration werden – hauptverantwortlich für das starke Abschneiden der AfD, die im Westen lange als Ost-Phänomen abgetan wurde. Lindner stellt schon mal seinen Forderungskatalog für eine Asyl-Wende auf: schnellere Abschiebung, Abschaffen der sogenannten Pull-Faktoren. „Dazu gehört der von uns geforderte Wechsel von Geldleistungen hin zu Sachleistungen und Bezahlkarten.“ Außerdem müssten Überweisungen von Flüchtlingen in die Heimat blockiert werden. Lindner fände auch gut, wenn die Unionsfraktion mit einbezogen würde. Denn man braucht die Zustimmung der Länder, die für die Umsetzung zuständig sind.
Vermutlich wären sich FDP und Union in diesen Fragen tatsächlich relativ rasch einig. Mit den Grünen aber könnte es weit schwieriger werden. Neulich brauchte es bereits ein Machtwort des Kanzlers, um auf EU-Ebene die deutsche Blockadehaltung zu beenden. Bei den innenpolitischen Migrationsfragen könnte Olaf Scholz bald wieder gefragt sein. Denn während Lindner von Sachleistungen spricht, favorisieren die Grünen eine generelle Arbeitserlaubnis. „Wer hier ankommt, soll ab dem ersten Tag arbeiten können“, sagt Parteichefin Ricarda Lang, die ihrerseits unter dem Druck der Basis steht. Wie die Ampel das geräuschlos und einvernehmlich lösen will?
Handlungsbedarf gibt es jedenfalls – und das nicht nur angesichts der schwierigen Landtagswahlen im Osten im kommenden September. Auch die Zahlen sind alarmierend. Bis einschließlich September wurden in diesem Jahr über 250 000 Asylanträge gestellt – und damit schon jetzt mehr als 2022 insgesamt. „Wir sind mit massiven Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa konfrontiert“, sagt Regierungssprecher Steffen Hebestreit.
Mit der Union gibt es bislang aber keinen Kontakt. CDU-Chef Friedrich Merz macht am Donnerstag zum wiederholten Mal deutlich, er habe trotz Olaf Scholz’ Ankündigung eines „Deutschland-Paktes“ keinerlei Hinweise auf Gespräche erhalten. Das ist einen Monat her.