Essen – In einer Freitagnacht entlud sich die Wut. Mehr als 170 Menschen waren Mitte Juni mit Eisenstangen und Messern mitten in der Innenstadt von Essen in NRW aufeinander losgegangen. Dahinter steckt ein neues Phänomen im Clan-Milieu, sagt Mahmoud Jaraba. Der Politikwissenschaftler forscht am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa zu Clan-Strukturen. Er warnt: „Dieses Phänomen müssen wir jetzt stoppen, wir dürfen nicht warten.“
Die Massenschlägerei im Ruhrgebiet sei nur der Anfang, die Gefahr von Straßenkriegen zwischen libanesischen und syrischen Banden steige. „Es findet ein Machtwechsel statt, es entwickeln sich neue Strukturen“, so Jaraba. Demnach versuche die noch recht junge syrische Community seit einigen Jahren vor allem in NRW und Berlin ökonomische und soziale Strukturen aufzubauen. Dabei komme es zu Konflikten mit den etablierten Strukturen der dort lebenden libanesischen Gemeinschaft.
Seit 2015 kamen hunderttausende Syrer als Kriegsflüchtlinge nach Deutschland. „Die allermeisten Menschen, die aus Syrien kommen, sind nicht kriminell“, betont Jaraba. „Aber innerhalb der Community entwickeln sich kriminelle Strukturen. Kriminelle Clans bauen ihre Macht nach und nach auf. Das ist eine ähnliche Entwicklung, wie sie in den 1980er-Jahren in der libanesisch-türkischen Community passiert ist.“ Auch dort seien die meisten nicht kriminell. „Aber selbst wenn es nur fünf oder zehn Prozent sind, reden wir immer noch über tausende Menschen.“
Banden aus Syrien, die dort schon lange vor allem im Menschenhandel aktiv gewesen seien, würden in Deutschland immer mächtiger. „Das Problem: In Zukunft wird es schwer sein, zwischen den Kriminellen und denjenigen, die ein normales Leben führen wollen, zu unterscheiden. Denn die kriminellen Clans üben innerhalb der Community Macht auf diejenigen aus, die gar nicht kriminell sein wollen“, sagt Jaraba.
Vor allem Frauen seien oft Opfer. „Es gibt viele Frauen, die über Heirat oder direkte Verwandtschaft zu diesen kriminellen Clans gehören, aber eigentlich nicht mitmachen wollen. Für sie ist es extrem schwer, da herauszukommen. Ich kenne eine betroffene junge Frau aus einer hochkriminellen Familie, die mir gesagt hat: Lieber bringe ich mich um, als an diesen kriminellen Sachen beteiligt zu sein.“
Man müsse sich einen Clan als großes Familiengebilde vorstellen. Innerhalb dieses Überbaus gebe es Subclans, die kriminelle Strukturen entwickelten. „Die sind wie eine Mafia, hoch organisiert und nachhaltig. Das wird von einer an die nächste Generation weitergegeben.“ Sie nutzen auch Soziale Medien, um sich zu organisieren und schnell viele Menschen zu mobilisieren. So wie im Juni in Essen. Die Massenschlägerei habe sich vorher in Sozialen Netzwerken angebahnt. Dahinter stecke ein Streit, der weit über Deutschland hinaus strahle. „Im Libanon gibt es mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien. Die libanesische Regierung hat Anfang dieses Jahres massiv Druck auf die Flüchtlinge ausgeübt, das hat zu viel Kritik von Syrern geführt“, so Mahmoud Jaraba.
Man dürfe nicht denselben Fehler machen wie in den 1970ern und 80ern. Damals waren viele Familien aus dem Libanon nach Deutschland geflohen, ließen sich vornehmlich in Berlin, NRW und Bremen nieder. Viele hatten nur Duldungsstatus, durften nicht arbeiten. Aus der Perspektivlosigkeit heraus entwickelten sich Schattenökonomien und kriminelle Strukturen. Die Politik habe die Menschen sich selbst überlassen, statt präventiv dagegenzuwirken, so Jaraba. Das müsse man diesmal anders machen. PETER SIEBEN