Blumen und Küsschen von Friedrich Merz: Bei der konstituierenden Sitzung des Bundestags ist Julia Klöckner mit 62 Prozent zur neuen Bundestagspräsidentin gewählt worden. © dpa
München/Berlin – Vielleicht waren die Erwartungen an ihn einfach zu hoch. Gregor Gysis Hände zittern, als er durch seine Rede blättert. Sein Blick klebt am Manuskript, die Zuhörer im Plenarsaal blickt er nur selten an, immer wieder stockt er beim Sprechen. Dabei haben gerade eben noch alle Fraktionen von Mitte bis links das rhetorische Talent und die Schlagfertigkeit des Linken-Politikers gelobt, ihn als Alterspräsidenten verteidigt – und geschlossen gegen einen Antrag der AfD gestimmt, die lieber den ältesten Abgeordneten (Alexander Gauland, 84) am Rednerpult gesehen hätte: ein Erstversuch, um Chaos zu stiften.
Es bleibt also dabei, dass der 77-jährige Gysi, der dem Parlament mit mehr als 30 Dienstjahren am längsten angehört, den neuen Bundestag eröffnen darf. Einer, der um 103 Sitze kleiner ist als zuvor. Und der sich deutlich nach rechts verschoben hat, mit einem doppelt so breiten AfD-Block. Gysi scherzt, ob es wirklich so klug sei, ihm eine Rede ohne Zeitbegrenzung zu ermöglichen – und verspricht, dass er das Recht dazu nicht missbrauchen werde.
Dann wird er wieder ernst, geht auf die schwierige Lage in der Welt ein, auf Russland und die Ukraine und die „neue Friedensordnung in Europa“. Die meisten im Plenarsaal würden – anders als er – auf Abschreckung und Aufrüstung setzen, doch man dürfe sie niemals als Kriegstreiber bezeichnen. Andersrum dürfe man Menschen wie ihn, die sich diplomatische Lösungen wünschen, nicht als „Putinknechte“ abstempeln. Beiden Gruppen gehe es um nichts anderes als Frieden, und dafür erntet Gysi parteiübergreifend Applaus.
Es ist womöglich der bedeutendste Auftritt in seiner Karriere. Gysi hat schon oft gesagt, dass er sich auf diesen Moment freut. Womöglich holt er deshalb so weit aus. Viel zu weit, wie viele Abgeordnete später beklagen werden. Denn der Rest seiner Rede ist ein Potpourri aus Themen von Rente bis Bildung, von Nahost bis Donald Trump, Klimaproteste, Corona-Einschränkungen, Energiekrise, Inflation, Gesundheitsversorgung, der Graben zwischen Ost und West – um nur einige zu nennen. Der Linken-Politiker presst all dies in nur 35 Minuten und verliert schnell die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. „Ja, da müssen Sie jetzt durch“, sagt er mit einem ironischen Unterton, als einige Abgeordnete aufstöhnen. Am Ende applaudiert nur noch die Linke.
Als alles gesagt ist, wird der Alterspräsident von der frisch gewählten Bundestagspräsidentin abgelöst: CDU-Frau Julia Klöckner besetzt nun – wie erwartet – das zweithöchste Amt im Staat. Doch auch ihr Start ist holprig. Mit nur knapp 62 Prozent der Stimmen erzielt sie das schlechteste Ergebnis bei der Bundestagspräsidentenwahl jemals. In ihrer Rede ruft die 52-Jährige zu respektvollen Diskussionen auf („Ich werde nicht nur auf die Uhr schauen, sondern auch genau hinhören“), verspricht Unparteilichkeit im Amt – und nutzt aber zugleich ihre Rede, um das aktuelle Wahlrecht zu kritisieren, unter dem vor allem die Union leidet, weil sie 18 Erststimmengewinner nicht ins Parlament schicken durfte.
Klöckner, Ex-Agrarministerin und Merz-Vertraute, ist noch nicht ganz warm in ihrer neuen Rolle: Als die Abgeordneten über ihre Stellvertreter abstimmen sollen, verzettelt sie sich in ihren Unterlagen, spricht ihre eigene Fraktion als „CDU-Fraktion“ an und erntet mahnende Blicke von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Der Urnengang selbst verläuft aber unproblematisch: Vier Parteien können ihre Kandidaten zu Vizepräsidenten wählen lassen (CSU: Andrea Lindholz, SPD: Josephine Ortleb, Grüne: Omid Nouripour, Linke: Bodo Ramelow). Allein die AfD scheitert daran, die Zustimmung des Parlaments für den früheren Luftwaffen-Offizier Gerold Otten aus Putzbrunn zu gewinnen. Es ist das 27. Mal, dass die AfD versucht, einen ihrer Abgeordneten in dieses Amt zu heben – erfolglos.