„Wir sind die Töchter“ lautete das Motto der Demonstration, bei der Tausende am Dienstagabend in Berlin vor die CDU-Parteizentrale zogen. © Förter/dpa
München – Nicht alle gehen die Sache so unverkrampft an wie Carolin Kebekus. Aber die ist auch Komikerin und weiß, wie man ernsten Themen die Schwere nimmt. Wenn man sie also zur Stadtbild-Debatte befragt, die Friedrich Merz ausgelöst hat, spricht sie weder von Migration oder bedrängten Frauen noch von verwahrlosten Innenstädten. „Das größte Problem, das ich mit dem Stadtbild habe: E-Roller.“
Neun Tage ist es her, dass der Kanzler bei einem Termin auf Fortschritte in der Migrationspolitik und auf die sinkende Zahl von Asylanträgen hinwies und dabei bemerkte: „Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem.“ Das S-Wort wabert seitdem durch die politischen Debatten, es ist zu einer Chiffre geworden für Überfremdung und Bedrohung, aber auch für Stigmatisierung und Ressentiments.
Wenig überraschend bekommt Merz Unterstützung aus den C-Parteien. NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst übt Nachsicht beim Tonfall („Jeder spricht auf seine Weise“) und steht inhaltlich hinter ihm. Fraktionschef Jens Spahn verweist konkret auf Hauptbahnhöfe: „Drogendealer, junge Männer, meistens mit Migrationshintergrund, meistens Osteuropa oder arabisch-muslimischer Kulturraum.“
Nicht so zu erwarten war hingegen die Reaktion von Vizekanzler Lars Klingbeil. Bei einem Gewerkschaftskongress fand er harsche Worte für Merz. Man müsse in der Politik „höllisch aufpassen, welche Diskussion wir anstoßen, wenn wir auf einmal wieder in ,Wir‘ und ,Die‘ unterteilen, in Menschen mit Migrationsgeschichte und ohne“. Er bevorzuge ein Land „in dem Politik Brücken baut und Gesellschaft zusammenführt, statt mit Sprache zu spalten“. Er wolle „in einem Land leben, bei dem nicht das Aussehen darüber entscheidet, ob man ins Stadtbild passt oder nicht“. Da sprach offensichtlich der SPD-Chef aus Klingbeil, nicht der Merz-Vize, dem es um Harmonie in der zuletzt nur selten friedlichen Koalition geht.
Bemerkenswert, wenn auch nicht ganz so explosiv ist eine Wortmeldung aus Merz‘ Partei. Armin Laschet, früherer Ministerpräsident, Kanzlerkandidat und Parteichef, hält die Stadtbild-Aussage für „zu nebulös“ und befürchtet, dass sie der AfD hilft. Es reiche nicht, ein Problem zu benennen, wenn man die Partei bekämpfen wolle. „Das Problem zu lösen, wird sie mehr schwächen.“
Merz selbst konkretisierte am Mittwochabend bei einem Besuch in London seine Aussagen. Schon heute seien Menschen mit Migrationshintergrund „unverzichtbarer Bestandteil unseres Arbeitsmarktes“, sagte er. „Wir können auf sie eben gar nicht mehr verzichten, ganz gleich, wo sie herkommen, welcher Hautfarbe sie sind und ganz gleich, ob sie erst in erster, zweiter, dritter oder vierter Generation in Deutschland leben und arbeiten.“ Probleme würden aber diejenigen Migranten bereiten, die keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus hätten, die nicht arbeiteten und die sich auch nicht an Regeln hielten. „Viele von diesen bestimmen auch das öffentliche Bild in unseren Städten.“ Deshalb hätten mittlerweile so viele Menschen in Deutschland und in anderen Ländern der EU „einfach Angst, sich im öffentlichen Raum zu bewegen“, sagte der Kanzler. Das betreffe Bahnhöfe, das betreffe U-Bahnen, das betreffe bestimmte Parkanlagen. „Das bestimmt ganze Stadtteile, die auch unserer Polizei große Probleme machen.“
Der Grünen-Ortsverband Castrop-Rauxel hat derweil gegen Merz Anzeige wegen des Verdachts der Volksverhetzung erstattet. Für Unbehagen sorgt der Vorstoß des Kanzlers auch bei Wirtschaftsvertretern. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), warnte im „Handelsblatt“ vor gesellschaftlicher Polarisierung. „Die Botschaft des Bundeskanzlers schwächt die Willkommenskultur Deutschlands und wird den Fachkräftemangel in den kommenden Jahren verschärfen.“ Mehr Differenzierung wünscht sich auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW). „In der Migrationsdebatte wird zu wenig getrennt zwischen Fachkräftezuwanderung und Menschen, die aus humanitären oder sonstigen Gründen kommen“, sagte der Berlin-Chef Knut Bergmann. Dass Deutschland ökonomisch die Zuwanderung von Fachkräften benötige, sei unstrittig.MIT DPA