Der blinde Organist

von Redaktion

Emanuel Goldstein spricht über sein „Allerheiligstes“: eine Orgel in Riedering

Riedering – Emanuel Goldstein hat die Riederinger Kirchenorgel noch nie gesehen. Und doch kennt er sie wie kein anderer. Er ist blind. Eine Geschichte über Herausforderungen und die Liebe zur Musik.

Die Finger des Organisten fliegen über die Tasten. Er hebt und senkt die Füße, bewegt die Pedale abwechselnd. Ein Griff nach links: fünf Registerzüge hinein, fünf andere heraus. Der Klang der Orgel erfüllt den Raum, hallt von den Wänden wider. Emanuel Goldstein ist in seinem Element, den Kopf geradeaus gerichtet, vor ihm das leere Notenpult. Die Noten hat er im Kopf. Denn der Organist ist von Geburt an blind.

Youtube als
„guter Freund“

„Die Musik gibt mir Kraft, ohne geht es nicht“, sagt Goldstein. Mit drei Jahren hat er das erste Mal auf einem Kinder-Keyboard gespielt. Mit sieben Jahren hat er Klavierunterricht bekommen. Er habe den Unterricht auf Kassette aufgenommen und immer wieder angehört, bis er die Stücke spielen konnte. Die Blindenschrift konnte Goldstein als Siebenjähriger noch nicht.

Nach vielen Jahren Musikunterricht und seinem Abschluss an der Blindenschule hat Goldstein Kirchenmusik in Regensburg studiert. „Schwere Stücke“, wie die von Johann Sebastian Bach, habe er sich „mühsam erarbeitet“. Auch das Gotteslob und andere bekannte Lieder könne er auswendig. Zahlreiche Notenbücher in Blindenschrift habe er dafür studiert. Moderne Lieder lerne er mit seinem „guten Freund Youtube“ – nach Gehör, wie früher im Klavierunterricht.

„Natürlich verzweifle ich manchmal, aber ich kenne es nicht anders. Ich spiele so, wie ich Sachen fühle“, sagt Goldstein. Der Ablauf der Gottesdienste sei immer gleich. Er habe sich die Reihenfolge eingeprägt. „Happig sind Kommunionen“, sagt der Musiker. Da müsse er hinhören, wann es still wird. „Ich sehe ja nicht, was passiert.“

Die Musik ist Goldsteins Leben, die Orgel sein „Allerheiligstes“ und der Platz auf der Empore sein Reich. Der Organist nennt die Kirche sein „musikalisches Zuhause“. Dort fühle er sich wohl. Das hat auch mit den Menschen in Riedering zu tun. Als der Organist hergezogen ist, habe er nicht gewusst, wie die Leute auf ihn reagieren. „Einer, der nichts sieht, wie soll der die Orgel spielen?“ – solche Fragen hat Goldstein erwartet. Doch die Riederinger seien „ganz locker“. Die Einheimischen wüssten, wie sie mit ihm umgehen müssen.

„Ich habe mich sehr an die Gemeinde gewöhnt, es ist cool hier“, sagt Goldstein. Seit 20 Jahren lebt er in Riedering. Als 25-Jähriger hat er sich auf die Ausschreibung einer Organisten-Stelle der Erzdiözese München und Freising beworben. Einsatzort: Riedering. So kam er von seiner Heimat Eichstätt in das bayerische Dorf im Rosenheimer Land.

Und nicht nur in der Riederinger Kirche hat Goldstein eine musikalische Heimat gefunden. Seit 2003 ist er bei den „Lobpreis Engal“. Die Gruppe macht christlichen Pop und Dialektmusik. „Das gefällt mir so gut, das hätte ich nie gedacht“, sagt Goldstein. Zuerst habe er nichts verstanden, mittlerweile sei er den bayerischen Dialekt gewohnt und singe sogar mit.

Für Gottesdienste, Hochzeiten und Taufen ziehen die „Engal“ von Kirche zu Kirche. „Auf Tour mit den Mädels“ sei es immer spannend. Dann könne er die Akustik der Kirchen ausprobieren. Nicht nur Goldstein, auch den Sängerinnen machen die Auftritte Spaß, bestätigt Hedi Grasl: „Es ist schön und vielfältig mit ihm, er ist sehr spontan.“ Wenn ihm jemand etwas vorspiele, höre er sich das Lied einmal an und könne es spielen. „Die meisten Leute erstaunt, was er kann.“

Die Gruppe ist Grasl zufolge ein eingespieltes Team. Als Goldstein im Urlaub war, hätten die „Lobpreis Engal“ Ersatz organisieren müssen. Der andere Organist habe nicht gut zu ihnen gepasst. Deshalb schätzen die Sängerinnen Goldstein umso mehr: „Wir sind wahnsinnig froh, dass wir ihn haben. Ohne ihn würde es nicht gehen“, sagt Grasl. Und ohne seine „Engal“ würde es wohl auch für Goldstein nicht gehen.

Die Musik stellt ihn aber auch vor Herausforderungen. „Es gibt weniger Knöpfe an den neuen Keyboards“, sagt er. Oft ersetze ein Touchscreen die Knöpfe. Smartphones könnten sich meist nicht mit dem Keyboard verbinden. Dabei müsste ihm sein Telefon vorlesen, was auf dem Bildschirm zu sehen ist.

„Hersteller nutzen
die Technik nicht“

„Die Hersteller nutzen die Technik nicht. Das ist einfach traurig.“ Der Organist wünscht sich mehr Einsatz für Barrierefreiheit im Musikbereich. „Die Sounds der neuen Keyboards sind fantastisch. Ich denke mir jedes Mal: Wow, das Ding würde ich gerne ausprobieren“, sagt Emanuel Goldstein. Bisher schreckt er davor zurück.

Doch seine Liebe zur Musik kann nichts stoppen. Ganz nach seinem Lieblingszitat von Sänger John Miles: „Music was my first love and it will be my last – Musik war meine erste Liebe und wird meine letzte sein.“

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