Liebevoller Nachhall

von Redaktion

Wie Lena (21) und Chiara (20) mit dem Tod ihrer Schwestern umgehen

Samerberg – Die Tränen kommen sofort: Bei Chiara (20) sind es 16 handschriftliche Zeilen einer Glückwunschkarte zu ihrem 18. Geburtstag, bei Lena (21) die ersten Takte eines Songs aus dem Film „LOL“. Und die Tränen wollen nicht mehr versiegen. Wie so oft in den vergangenen 28 Monaten. Denn die Karte ist eine Erinnerung an Chiaras Schwester Melanie, der Song ein Nachhall an letzte glückliche Stunden mit Lenas Schwester Ramona. Letzte Erinnerungen, bevor ein tödlicher Verkehrsunfall die Geschwister für immer getrennt hatte.

Es ist der 20. November 2016, 21.04 Uhr, als ein damals 23-jähriger VW-Fahrer aus Ulm auf der Miesbacher Straße in Rosenheim frontal in den Nissan Micra der 21-jährigen Melanie Rüth vom Samerberg kracht. Die 21-Jährige stirbt noch am Unfallort, ihre 15-jährige Freundin und Nachbarin Ramona Daxlberger nur wenige Stunden später im Krankenhaus. Die dritte Insassin, Melanies damals 19-jährige Schwester Lena, überlebt schwerst verletzt (wir berichteten).

Während um Mitternacht im Münchner Klinikum Großhadern jede Sekunde zählt, um das Leben von Lena zu retten, steht bei Chiara Rüth von einer Sekunde auf die andere die Zeit still. Polizisten haben der Familie gerade die Nachricht vom Tod ihrer Schwester Melanie überbracht. „Ich weiß nur noch, dass ich mich auf den Boden gesetzt habe“, erinnert sich Chiara an den Unglücksabend zurück. Danach? Nur noch Leere.

Dabei – daran erinnern sich beide jungen Frauen noch genau – hatte der 20. November 2016 wie ein Bilderbuchtag begonnen. Sonne, fast schon spätsommerliche Temperaturen – perfekte Bedingungen, die die vier Freundinnen Melanie, Ramona, Lena und Chiara für einen Ausritt mit ihren geliebten Pferden nutzten. „Es war eigentlich ein herrliches Wochenende“, erinnert sich Lena. „Wir hatten so viel Spaß.“ Besonders in Erinnerung ist Chiara und Lena das glockenhelle Lachen von Lenas damals dreijähriger Schwester Helena, die erstmals auf einem Pony sitzen durfte.

Ein Meer aus

Angst und Tränen

Die nächste Begegnung zwischen Lena und der kleinen Helena – ein Meer aus Angst und Tränen. Als die schwer verletzte, am ganzen Körper von Schwellungen und Schnitten übersäte Lena nach drei Wochen Klinikaufenthalt im Krankenbett ins Haus am Samerberg gefahren wird, läuft Helena schreiend davon und versteckt sich hinter dem Sofa. „Das war ganz schlimm für mich“, erinnert sich Lena und streicht kurz über ihre Arme, auf denen heute noch die Narben wie in einem Bilderbuch die Geschichte des Unfalls erzählen.

Nur langsam kann sich die kleine Schwester daran gewöhnen, dass Lena jetzt ein anderer Mensch ist – innerlich und äußerlich. „Als ich mein Gesicht das erste Mal im Spiegel gesehen habe, war das, als ob ich den Menschen nicht kennen würde“, sagt die heute 21-Jährige, die seit dem Unfall fünf schwere Operationen über sich ergehen lassen musste. Knochen gebrochen, Knie zertrümmert, offenes Schädel-Hirn-Trauma: Auch heute leidet die junge Frau massiv an den Folgen des Unfalls – vor allem die Kopfverletzungen machen ihr zu schaffen. „Ich bekomme sehr schnell Kopfschmerzen“, erzählt die 21-Jährige. An ihre neuen Gesichtszüge hat sie sich mittlerweile gewöhnt. „Es gibt ein Ich von mir vor dem Unfall. Und es gibt ein Ich von mir nach dem Unfall.“

Ihre äußerliche Veränderung hat Lena mittlerweile akzeptiert. Doch was ist mit der Trauer um die Schwester, was mit den Schmerzen? Die hat Lena anfangs so weit wie möglich verdrängt. Beispielsweise durch den Abschluss ihrer Ausbildung zur Arzthelferin. „Das hat mich abgelenkt“, glaubt die 21-Jährige, die aufgrund ihrer körperlichen Beschwerden derzeit aber nur stundenweise arbeiten kann. Angst hat sie zudem davor, dass die Psyche für sie noch zur großen Hürde werden könnte: „Bei der Bewältigung des Verlusts bin ich wahrscheinlich erst mittendrin.“

Eine Befürchtung, die auch Chiara hat: Die 20-Jährige hat zwar keine körperlichen Schäden erlitten – kurz vor der Abfahrt der Mädels hatte sie entschieden, daheim zu bleiben – dafür aber ihr einziges Geschwisterkind verloren. Ihre beste Freundin, ihre Vertraute. „Mit ihr konnte ich wirklich alles besprechen“, sagt die gelernte Bürokauffrau, die nicht nur ein Bad, sondern ihr ganzes Leben mit ihrer Schwester geteilt hat. „Wenn meine Eltern nicht daheim sind, ist das Haus jetzt einfach leer“, beschreibt die junge Frau die Einsamkeit, die sie immer wieder erfasst.

Ausbruch aus

dem Traueralltag

Deshalb hat sie ihrer Heimat für fünf Monate den Rücken gekehrt – um auf einem Pferdehof in Spanien Abstand zu gewinnen. „Ich konnte die Trauer meiner Eltern nicht mehr ertragen“, sagt die dunkelhaarige Frau. „Ich habe versucht, einfach mal alles hinter mir zu lassen, auch um die Gedanken zu sortieren und meiner Schwester wieder näher sein zu können.“ Seit wenigen Tagen ist sie wieder zurück – und hat nun auch wieder die Kraft, „meinen Eltern neuen Halt zu geben“.

Halt, den sich die jungen Frauen, die von einer Sekunde auf die andere ihre wertvollste Bezugsperson verloren haben, vor allem gegenseitig geben. „Wir waren ja schon immer gute Freunde“, sagt Lena und streicht Chiara liebevoll über den Oberarm, „aber der Tod unserer Schwestern hat uns noch näher zusammengebracht“. Noch enger sei das Verhältnis seit dem Unfall, so Chiara. „Eigentlich sind wir wie Schwestern.“

Zusätzlich zum gegenseitigen Trost hat den beiden sympathischen und hübschen jungen Frauen aber noch etwas anderes geholfen, mit dem Tod ihrer geliebten Schwestern umzugehen: ihr tiefer Glaube zu Gott. „Wir werden sie irgendwann wiedersehen“, ist Chiara überzeugt. Bis es so weit ist, treffen sich die beiden Freundinnen häufig im Kunstgarten der Familie Rüth, einem Permakulturprojekt, das Melanie und Chiara gemeinsam ins Leben gerufen haben. Und das Chiara zum Andenken an ihre Schwester „MellaLand“ getauft hat. Ein Ort, an dem die beiden Samerbergerinnen Kraft schöpfen und sich ihren verstorbenen Schwestern ganz, ganz nahe fühlen.

So wie sich Chiara ihrer Schwester besonders nahe fühlt, wenn sie abends ins Bett geht. Denn auf ihrem Nachtkästchen steht die Glückwunschkarte, die ihr Melanie 2016 zu ihrem 18. Geburtstag geschenkt hat. 16 Zeilen, die der heute 20-Jährigen sofort die Tränen in die Augen treiben. Teilweise aus Trauer, teilweise aber auch aus Dankbarkeit, so eine einzigartige Schwester gehabt zu haben. Jedes einzelne Wort kann sie auswendig aufsagen, natürlich auch den letzten Satz: „Ich habe dich lieb. Deine Schwester Melanie.“

Gegen den zweiten BMW-Fahrer wird verhandelt

20 Monate auf Bewährung für den Unfallfahrer Simon H. aus Ulm, zwei Jahre Gefängnis für Daniel R. aus Kolbermoor – so lautete das Urteil des Amtsgerichts Rosenheim Mitte Mai 2018 im Prozess um den Unfalltod der beiden Samerbergerinnen Ramona Daxlberger (15) und Melanie Rüth (19). Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Simon H. eine Überholsituation falsch eingeschätzt hat und dadurch frontal in das Auto von Melanie Rüth gekracht war. Allerdings soll er von Daniel R. aus Kolbermoor – sein Berufungsprozess soll im Frühjahr in Traunstein verhandelt werden – am Wiedereinscheren gehindert worden sein. Ein Vergehen, das auch einem jungen Riederinger vorgeworfen wird. Der Kumpel von Daniel R. hat in der Unfallnacht den BMW hinter dem Kolbermoorer gesteuert. Ihm wird seitens der Staatsanwaltschaft fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung zur Last gelegt. Der Prozess beginnt am Dienstag, 12. Februar, angesetzt sind fünf Verhandlungstage. 14 Zeugen sind geladen. Das Urteil wird am 19. März erwartet. Was sich die Hinterbliebenen vom Prozess erwarten? Chiara Rüth, Schwester der verstorbenen Melanie: „Wir wollen endlich Antworten haben, wie es wirklich zu dem Unfall kam. Wir haben ein Recht darauf.“

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