„Eine echte Zumutung“

Missbrauch im Kindesalter (Symbolfoto) ist eine furchtbare Bürde. Robert Köhler gründete einen Verein zur Aufarbeitung der Skandale in der Kirche. Foto dpa/re
Exklusiv-Interview Missbrauchsopfer Robert Köhler zum Fall Greihansel in Rosenheim
Rosenheim – Ein vorbestrafter Missbrauchstäter als Priester in Rosenheim: Das Erzbistum München-Freising machte es möglich. Missbrauch in der Kindheit belastet Menschen ein Leben lang. Wie schwer, darüber weiß Robert Köhler Bescheid. Er verbrachte seine Gymnasialzeit von 1974 bis 1983 im Internat in Ettal. Er ist Mitgründer und einer der Vorstände des Vereins Ettaler Misshandlungs- und Missbrauchsopfer. Und er war Sprecher während der Aufarbeitung der Vorfälle im Kloster Ettal.
Seitdem engagiert sich Köhler ehrenamtlich bei der Aufarbeitung von Missbrauch im kirchlichen Umfeld. So wie im Fall Pfarrer Rudolf Greihansel, der in den 60er-Jahren als vorbestrafter Missbrauchstäter nach Rosenheim versetzt wurde. Wie ist das möglich? Wir sprachen mit Robert Köhler über Kirche, Schuld und zögerliche Aufarbeitung.
Dass es Leute gibt, die das behaupten, kann ich bestätigen. Was aber den Missbrauch betrifft: nein. Wenn ein Täter mal den Mechanismus raushat, wie er an Kinder rankommt und wie er das für seine Zwecke nutzen kann, dann tut er es immer wieder. Wenn er dann versetzt wird, ist die Gefahr sehr groß, dass er es weiter tut.
In der Regel sind die Täter keine schüchternen Menschen, die so wirken, dass sie sich an das Thema Sexualität nicht herantrauen. Vielmehr sind es Menschen, die mit anderen sehr gut umgehen können, die sehr offen wirken, die andere beeinflussen und auch viel Positives in die Wege leiten können. Über diese Beeinflussung bringen sie Kinder in Abhängigkeit. Und dann werden Grenzen ausgedehnt und übertreten, indem man gemeinsam etwas Verbotenes tut, etwa Alkohol trinken oder einschlägige Videos anschauen. So verwickelt der Täter das Kind in eine Situation, in der es nicht in der Lage ist, mit den Eltern über die Taten zu reden.
Wie stets bei Sexualität gibt es auch Geschmacksfragen. Das andere ist, dass die Täter ein sehr gutes Gespür haben, wie viel Rückhalt Kinder bei den Eltern und bei Freunden haben. Kinder mit wenig Rückhalt, die vielleicht nur noch ein Elternteil haben und noch dazu zu Hause schlechte Verhältnisse, sind besonders anfällig. Diese Kinder suchen ja die Nähe, die ihnen in ihrem Umfeld fehlt.
In Sportvereinen und Schulen ist es nicht grundsätzlich anders. 80 Prozent der Missbrauchsfälle ereignen sich ohnehin in der Familie. 15 Prozent im bekannten Umfeld. Nur bei ein bis zwei Prozent ist es der Unbekannte, vor dem man Kinder immer warnt. Missbrauch ereignet sich vor allem dort, wo Nähe und Gelegenheit vorhanden sind.
Aber: Die katholische Kirche kommt seit 13 Jahren nicht mehr aus den Schlagzeilen, weil sie das Thema nicht so konsequent aufarbeitet, dass alle Infos bei den Kirchengemeinden ankommen. Deswegen ist jedes offensichtliche Ereignis für die Öffentlichkeit ein neues Ereignis und damit eine Negativschlagzeile. Deswegen haben wir als Ettaler Verein dieses Projekt gestartet: „Wir-wissen-Bescheid. de“. Damit die Gemeinden wissen, was sich bei ihnen in der Vergangenheit abgespielt hat.
Statistisch gerechnet ist in den vergangenen 60 Jahren in jeder fünften Gemeinde etwas vorgefallen. Die Kirchengemeinden müssen Bescheid wissen, damit sie souverän damit umgehen können. Es geht beispielsweise auch nicht, dass Straßen nach Priestern benannt sind, bei denen angenommen werden darf, dass sie Missbrauch begangen haben. Es braucht Mut, das zu benennen und das auch den 300 Leuten mitzuteilen, die da wohnen und eine neue Adresse bekommen sollen.
Bei den Bistümern ist alles dokumentiert. Man kann bei einzelnen Beschuldigten den Lebenslauf durchleuchten, also findet man auch immer die Orte, an denen sie sich möglicherweise schuldig gemacht haben. Wenn man da aber nicht offensiv und gründlich herangeht, dann hat man einen Prozess, der einfach noch mal schmerzhafte zehn, 15 Jahre dauert. Wenn man alles auf den Tisch packt, zügig, souverän und möglichst vollständig – dann können immer noch Fälle nachgereicht werden, ohne dass es wie die Spitze eines Eisberges wahrgenommen wird. So aber gibt es mit jeder neuen Nachricht immer wieder einen „Ping“ bei den Betroffenen.
Tja. Missbrauch ist in vielen Regionen bis in die Neuzeit hinein nur als Verletzung des Keuschheitsgebots behandelt worden. Von der Art der Verfehlung her wurde Missbrauch als kirchenrechtlich gleich mit dem behandelt, was Erwachsene einvernehmlich untereinander tun. Dass das eine ein Verbrechen ist, das Keuschheitsgebot aber eine selbstgemachte Regel – da wurde nicht unterschieden. Ich mache den Kirchenoberen den Vorwurf, häufig völlig blind zu sein, dass da gesellschaftliche Normen missachtet wurden. Um die Betroffenen und deren Lebensbewältigung hat sich keiner gekümmert.
Wenn jemand in der Kirche ist, dann ist er Teil der Kirche. Gefühlt haben die Kirchenleute eine Fürsorgepflicht für solche Mitglieder. Es führt noch heute dazu, dass man sich – übrigens unabhängig von der Kirche – mit einer Namensnennung schwer tut. Es ist auch juristisch schwierig, weil es den Resozialisierungsgedanken gibt. Der ist an sich gut. Aber – für jemanden mit Neigung zu Missbrauch ist er nicht hilfreich. Menschen, die eine solche Neigung haben, müssen engmaschig begleitet werden.
Die Aufarbeitung treibt mich um. Ich investiere dafür einen sehr hohen Anteil meiner Freizeit. Es ist kaum auszuhalten, dass durch zu langsame, nicht ergebnisorientierte Bemühungen um Aufarbeitung Betroffene seit 13 Jahren in der Schleife hängen. Alle paar Wochen erhalten sie über die Medien den nächsten „Ping“. Das zieht die Leute runter, es ist eine echte Zumutung. Deswegen haben wir unser Projekt „Wir-wissen-Bescheid. de“ gestartet. Weil es das eine ist zu sagen, was war, das andere aber ein souveräner, nach vorne orientierter Umgang mit dem Thema, der die Leute aus der Dauerschleife rausbringt. Dass eine Gemeinde heute noch eine Geschichte wie die von Pfarrer Greihansel als Überraschung erfährt, geht gar nicht. Die Kirche muss das erledigen. Nicht mit dem Ziel, die Kirche zu retten, das wäre der Nebeneffekt, sondern um Betroffenen zu helfen.
Wenn du so einen „Ping“ bekommst, also ein neues Gutachten, ein neuer Fall in den Medien, trittst du sofort zwei Tage in die Tonne. Ein Betroffener kann da nicht so tun, als ob nichts passiert wäre, er kommt aus der Sache nicht raus. Es gibt einen Unterschied, ob ich einen Sachschaden verursache oder ob ich Missbrauch begehe. Das eine ist mit Geld abgegolten, das hat in der Regel nichts mit Personen zu tun. Wenn ich aber ein Betroffener bin, dann bin ich dieser Kirche, diesem Internat ja noch immer wie Verwandtschaft verbunden. Die Übergriffe waren ja auch nur möglich, weil diese Nähe da war. Wenn die Kirche ihre Maßnahmen aus dieser Einsicht heraus gestaltet, dann funktionieren sie.
Die Kirche soll bei Missbrauch auch außerhalb ihrer Mauern Hilfe anbieten. Ein solches Selbstbewusstsein hat sie bisher noch nicht entwickelt. Dabei gehört das zur Seelsorge. Papst Franziskus hat beim Anti-Missbrauchsgipfel auch betont, dass er das als Aufgabe sieht. Das hat nur noch niemand aufgenommen.
Robert Köhler engagiert sich für den Verein „Wir wissen Bescheid“. Im Mai unternimmt er mit Betroffenen und Menschen, die sich mit Missbrauchsopfern solidarisch zeigen möchten, eine Radwallfahrt zu Papst Franziskus. Nähere Informationen zu „Wir brechen auf“ finden Sie hier.