„Das Kind hat wirklich Glück gehabt“

von Redaktion

Im Prozess gegen die Mutter, die ihr neugeborenes Mädchen in Rosenheim ausgesetzt hat, ist das Urteil gesprochen: Die 27-Jährige muss für drei Jahre und fünf Monate in Haft.

Traunstein/Rosenheim – Eine 27-jährige Filialleiterin muss wegen „Aussetzung“ ihres neugeborenen Babys am Morgen des 9. März 2023 in einem Hinterhof in Rosenheim für drei Jahre und fünf Monate hinter Gitter. Die Siebte Strafkammer am Landgericht Traunstein mit Vorsitzender Richterin Christina Braun sprach die Angeklagte gestern auch einer „gefährlichen Körperverletzung“ schuldig – wegen des Durchtrennens der Nabelschnur unter unhygienischen Bedingungen in der vermüllten Wohnung der Alleingebärenden. Das Urteil wurde nicht rechtskräftig.

Verteidiger Dr. Markus Frank kündigte noch im Gerichtssaal Revision an.

Zwei Frauen hatten an jenem kalten Märztag zufällig eine herrenlose Stofftasche im Hinterhof des Hotels „Wendelstein“ in der Bahnhofstraße entdeckt. In der Tasche stießen sie auf ein leise wimmerndes, völlig unterkühltes Baby. Es war nur in ein weißes Taufkleid, ein Jäckchen und einen dünnen weißen Schal gehüllt – bei sechs Grad Boden- und acht Grad Lufttemperatur.

Zeugen wärmten
den Säugling im Hotel

In dem Hotel wärmten hilfsbereite Zeugen das ansonsten nackte und in seinen Bewegungen deutlich verlangsamte Baby, an dem noch ein Teil der Nabelschnur klebte, mit Handtüchern auf. Ein Arzt maß gerade noch 30 Grad Körpertemperatur. Ein Rettungswagen brachte den Säugling unter Versorgung mit Sauerstoff und Wärmekissen in ein Krankenhaus.

Der Neonataloge Professor Dr. Thomas Rupprecht, Chefarzt einer Klinik in Bayreuth, betonte gestern vor Gericht: „Das Kind hat wirklich Glück gehabt, dass es überlebt hat.“

Nach den Ermittlungen der Kripo Rosenheim hatte die Frau das Mädchen zu Hause zur Welt gebracht, es wenige Stunden später 20 bis 25 Minuten in der Stofftasche zu Fuß durch die Stadt getragen und frühmorgens in dem kaum frequentierten Hinterhof abgestellt.

Aus Sicht des Gutachters war das Neugeborene bereits in der zu kalten Wohnung erheblich ausgekühlt. Nur der 1,5 Kilometer lange Fußweg an jenem Morgen könne den Abfall der Körpertemperatur auf 30 Grad und die Reduzierung der Herzschlagfrequenz um ein Drittel nicht erklären. Unter 30 oder 32 Grad werde die Lage für ein Neugeborenes „lebensgefährlich“.

Kleines Mädchen lebt
inzwischen bei Vater

Wäre das Baby nicht gefunden worden, wäre es mit 30- bis 40-prozentiger Wahrscheinlichkeit binnen einer halben oder einer Stunde verstorben, so der Neonataloge. Folgeschäden wie Entwicklungsstörungen könnten eintreten. Das stelle sich erst nach zwei bis drei Jahren heraus. Professor Dr. Rupprecht meinte weiter: „Es kann auch sein, dass keine Schäden entstehen. Das ist sogar wahrscheinlicher.“ Im Gehen sagte der Mediziner: „Ich wünsche der Kleinen alles Gute.“

Das Mädchen ist inzwischen sieben Monate alt, lebt bei seinem Vater und ist nach dessen Worten „pumperlgesund“.

Staatsanwalt Wolfgang Fiedler erachtete den Sachverhalt der Anklage für voll bestätigt. Mit „Gefühlskälte“ habe die Angeklagte das erst wenige Stunden alte Baby in der Tüte durch die Stadt getragen – „als ob sie einen Wocheneinkauf macht“. Nach dem Ablegen habe sie den Tatort sofort verlassen. „Ich denke nicht, dass das Baby in diesem Zustand noch eine Stunde gelebt hätte. Zeitnah hätte der Tod gedroht“, hob der Staatsanwalt heraus und plädierte auf eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren drei Monaten. Ein „minderschwerer Fall“ sei zu verneinen. Laut der psychiatrischen Sachverständigen weise die 27-Jährige eine Anpassungsstörung auf. Dennoch sei von erhaltener Steuerungsfähigkeit auszugehen, konstatierte Wolfgang Fiedler.

Die Angeklagte habe bereits zwei Kinder zur Welt gebracht, die sie zur Adoption freigegeben habe. Durch diese Schwangerschaften habe sie Zeit gehabt, sich ihr Verhalten nach der Geburt zu überlegen. Sie habe Hilfsangebote unmittelbar vorher ausgeschlagen. Das Fazit des Staatsanwalts: „Sie wollte das Baby loswerden.“

Schwierige
familiäre Verhältnisse

Verteidiger Dr. Markus Frank aus Rosenheim erinnerte, dass durch das tragische Geschehen nun am Romed-Klinikum eine Babyklappe eingerichtet werde. In Zukunft werde es keine Aussetzungen mehr geben.

Der Anwalt unterstrich, die 27-Jährige sei bereits kurz nach ihrer Festnahme am 14. März 2023 geständig gewesen. Sie habe bei der Tat gehofft, dass das Kind bald gefunden werde, habe auch etwas gewartet und geglaubt, Geräusche zu hören. Frank verwies auf die schwierigen familiären Verhältnisse der Frau, auf ihre wenigen Bindungen. Die Schwangerschaft habe die Angeklagte verdrängt, vor dem Aussetzen im Internet nach einer Babyklappe gesucht, auch nach „Kloster“ und „Kinderheim“ gegoogelt. Die Verzweiflung der 27-Jährigen sei gewachsen: „Sie wusste nicht, was sie tun sollte.“ Ein „minderschwerer Fall“ sei anzunehmen. Die Strafe solle „nicht über zwei Jahren“ liegen und zur Bewährung ausgesetzt werden.

Scharfe Worte
der Richterin

Scharfe Worte fand die Vorsitzende Richterin in der Urteilsbegründung. Aus Videoaufnahmen sei die Angeklagte mit dicker Jacke und zwei Kapuzen mit der Tasche in der Hand zu erkennen. Nach dem Ablegen sei sie strammen Schrittes weggegangen. Die Richterin dazu: „Es ging der Angeklagten nur darum, nicht erkannt und das Baby loszuwerden. Das Wohl des Kindes war vollkommen untergeordnet.“ Das Baby habe in Lebensgefahr geschwebt. Die Sache mit der Nabelschnur sei „grenzwertig“. Die 27-Jährige habe dem Kind eine Chance gegeben, das Kind habe die Chance genutzt. Nach Überzeugung der Kammer sei die Steuerungsfähigkeit der Angeklagten nicht erheblich beeinträchtigt gewesen. Unter den positiven Aspekten in der Strafzumessung hob die Richterin heraus, dass die Frau letztlich doch Verantwortung übernommen habe. Das Kind sei ohne Schaden davon gekommen: „Das ist aber weniger Ihnen zu verdanken als der robusten Natur ihrer Tochter“, sagte sie an die Mutter gewandt.

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