Rosenheim – Die Wartezeit muss für einige unerträglich sein. Wer zurzeit einen Therapieplatz bei einem Psychotherapeuten braucht, der wartet unter Umständen mehrere Monate – trotz der Beeinträchtigungen durch beispielsweise eine Depression, Ess- oder Zwangsstörung. Prof. Dr. Heiner Vogel, Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Bayern, erklärt im Gespräch mit dem OVB, warum es so lange Wartezeiten gibt, ob die Region ein Versorgungsproblem hat und was Patienten ohne Aussicht auf einen schnellen Termin machen können.
Bei den Wartezeiten für einen Therapieplatz hört man – was war das Längste, das Sie mitbekommen haben?
Ich habe erlebt, dass Leute Jahre gesucht haben. Da muss man aber dazusagen, dass die Suche nach einem Therapieplatz nicht sehr intensiv war. Die Betroffenen haben sich wochen- oder jahrelang gequält, auch, weil es das Umfeld toleriert hat und man sich irgendwie angepasst hat. Das Wissen über die Schwierigkeiten bei der Therapieplatzsuche lähmt genauso wie vielleicht die psychische Erkrankung selbst. Aber eine psychische Erkrankung ist kein Spaß, es ist eine hohe Belastung für einen selbst und nicht selten auch für das Umfeld beziehungsweise die Angehörigen. Ein zufriedenes Leben zu führen, ist etwas, worauf jeder ein Recht haben sollte. Wenn eine Erkrankung vorliegt, sollte auch eine Behandlung erfolgen. Und wer nachhaltig bei einem Psychiater oder der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) nachfragt, sollte nach einer gewissen Zeit einen Termin bekommen.
Die Wartezeit liegt in Rosenheim und den Nachbarlandkreisen einer Studie zufolge aber trotzdem zwischen 85 und 99 Tagen, in Mühldorf sogar bei 100 bis 114 Tagen – nicht gerade wenig bei psychischen Problemen.
Das entspricht wohl der Realität. Man muss sich aber auch bewusst machen, dass selbst diese Zahl fast schon schönfärberisch ist. Die Studie bezieht sich nur auf die Wartezeit von der ersten psychotherapeutischen Sprechstunde bis zur eigentlichen Therapie. Die Wartezeit bis zum ersten Kontakt mit einem Psychotherapeuten ist da nicht hineingerechnet. Es können im Schnitt nochmal zwei bis drei Monate vergehen, in denen der Betroffene erkennt, dass er Psychotherapie braucht, und versucht, überhaupt in die erste Sprechstunde zu kommen. Und wer nach der Sprechstunde aufgrund der langen Wartezeit die weitere Therapieplatzsuche aufgibt oder deswegen in eine Klinik muss, wird in der Studie gar nicht berücksichtigt.
Wie lange dauert es Ihrer Erfahrung nach in der Region Rosenheim wirklich, bis Betroffene Hilfe erhalten?
Das hängt immer vom Einzelfall ab. Aber der Statistik zufolge sind es tatsächlich im Mittel rund drei Monate bis zum Erstgespräch. In diesem kann der Therapeut festhalten: Ja, der Mensch braucht eine Akuttherapie, vielleicht ist eine Klinik besser für ihn geeignet, oder eine Therapie ist gar nicht notwendig. Wenn festgestellt wird, dass der Betroffene wirklich eine Psychotherapie braucht, muss zuerst auch bestimmt werden, ob eine tiefenpsychologisch orientierte, eine systemische Therapie oder eine Verhaltenstherapie nötig beziehungsweise sinnvoll ist. Für diese wird man sich anmelden und dann dauert es ungefähr nochmal drei Monate.
Wie kann das sein? Alle Landkreise in der Region zählen als „überversorgt“ mit Psychotherapeuten, allein in und um Rosenheim gibt es 172.
Die sogenannte Bedarfsplanung, aus der sich dieser angebliche Versorgungsgrad ergibt, nach dem Rosenheim als „überversorgt“ gilt, ist eigentlich eine Augenwischerei. Denn: Mit Bedarf hat das nichts zu tun. In der ganzen Formel für die Bedarfsplanung taucht der tatsächliche Bedarf an Ärzten oder in diesem Fall an Psychotherapeuten selbst nirgendwo auf.
Was offiziell Bedarfsplanung heißt, ist in Wirklichkeit, eine Verteilungsplanung der niedergelassenen Ärzte/Psychotherapeuten, die sich auf die Anzahl der Therapeuten von vor 25 Jahren bezieht, als der Psychotherapeutenberuf gesetzlich geregelt wurde. Die zugelassenen Therapeuten sind aber voll ausgelastet. Wir haben im Grunde einfach zu wenig zugelassene Therapeutenplätze bei der gesetzlichen Versorgung. Der steigende Bedarf wird bei dieser Planung nicht adäquat berücksichtigt.
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