Rosenheim – Im Jahr 1980 gründete sich der Verein für bodenständige Kultur. Ziel war es, Kunst- und Kulturschaffenden, weitgehend frei von Vorgaben, Platz zur Entfaltung zu bieten. 250 Mitglieder hat der Verein aktuell, die jüngsten sind 18 Jahre alt, die ältesten über 70. Im Vereinslokal Vetternwirtschaft organisieren sie regelmäßig Theateraufführungen, Konzerte, Lesungen und Ausstellungen.
Der erste Maibaum wurde 1985 aufgestellt. „Damals war es noch ein klassischer“, erinnert sich Vorstandsmitglied Reiner Sailer. Doch weil der Verein für bodenständige Kultur mit seiner Form der Kunst auch immer schon gerne provoziert hat, entschied man sich in den folgenden Jahren dazu, dieses alte Symbol der Fruchtbarkeit neu zu interpretieren. Inspiration fand sich auf der ganzen Welt: Der Mai-Obelisk von 2007 und der Mai-Menhir von 2015 können nach wie vor im Biergarten der Vetternwirtschaft in der Oberaustraße bewundert werden. Die meisten anderen „Themenbäume“ mussten in der Zwischenzeit immer wieder aus Sicherheitsgründen abmontiert werden. „So ein Baum aus Fichtenholz hält in der Regel nicht länger als vier bis fünf Jahre. Dann ist das Holz morsch“, weiß Reiner Sailer.
Eigentlich wetteifern Dörfer und Städte am 1. Mai immer um den größten Maibaum und wer es schafft, diesen tatsächlich mit reiner Muskelkraft in die Höhe zu stemmen. Über 30 Meter sind viele Exemplare hoch und wiegen weit über zwei Tonnen. Den bisher größten Baum der Welt stellte vor einigen Jahren Eicherloh, ein Ortsteil der Gemeinde Finsing, am südlichen Rand des Erdinger Moos. Beeindruckende 57 Meter maß er und war damit ein Fall für das Guinness-Buch der Rekorde.
Dort hinein könnte es nun auch der Maibaum der Vetternwirtschaft schaffen, nicht als größtes, sondern als kleinstes Exemplar. Das aktuelle Stangerl ist nicht einmal ganz drei Zentimeter groß. Mit bloßem Auge sind die Einzelheiten kaum wahrnehmbar. Da braucht es schon eine Lupe. Der Verein für bodenständige Kultur will mit seinem Miniaturbaum eine Gegenbewegung zu höher, größer, weiter setzen. „Dieser Maibaum symbolisiert das Ende des Wachstums“, erläutert dazu Rainer Seiler.
Erschaffen wurde das Kunstwerk von Thomas Kühnert, Kulturwart des Vereins. Die Arbeiten fanden unter dem Mikroskop statt: Der „Stamm“ ist eine Besenborste. Der 25-jährige kunstbegeisterte Rosenheimer hat es sogar geschafft, die Borste „richtig“ zu schnüren, also mit einer weiß-blauen Spirale zu bemalen. Die Querstreben hat er aus Borsten einer Zahnbürste hergestellt und eingefügt. Die Schilder bestehen aus Butterbrotpapier. Die Spitze des Maibaums ziert ein winziger grüner Kranz, geformt ebenfalls aus einer Zahnbürsten-Borste. Befestigt hat Kühnert diesen mit Haaren.
Wie viele Stunden er mit dieser Feinarbeit beschäftigt war, kann der Kulturwart nicht so genau sagen. „Ich habe mich in den vergangenen zwei Wochen in meiner Freizeit immer wieder einmal damit beschäftigt“, erzählt er. Bis zum Endergebnis brauchte er mehrere Anläufe: „Die ersten Exemplare waren noch etwas größer“.
Auf keinen Fall soll der Mini-Maibaum gestohlen werden. „Den würden wir sicherlich nie mehr finden“, schmunzelt Reiner Sailer. Darum wird das kleine Kunstwerk bis zum Fest am morgigen 1. Mai, 14 Uhr, sicher in einem Safe aufbewahrt.Das sonst übliche Aufstellungs-Prozedere mit viel Manneskraft macht in diesem Fall keinen Sinn. Stattdessen findet eine feierliche Enthüllung statt. Danach bekommt das Mini-Stangerl einen Platz in einer Vitrine.