OVB-Porträt der Woche: Francesca Terranova

Die Umarmerin

von Redaktion

Francesca Terranova hat einen Beruf, den es eigentlich gar nicht gibt: Sie ist Umarmerin. Arbeitsplatz der Bad Endorferin ist die Rosenheimer Fußgängerzone. Hier umarmt die gebürtige Sizilianerin jeden, der mag.

Rosenheim – Jeans-Latzhose mit Fransen an den Beinen, ein buntes Tuch im brünetten Haar: Ein wenig erinnert die zierliche Francesca Terranova an junge Frauen aus den sechziger Jahren, wenn sie mit ausgebreiteten Armen und einem sanften Lächeln im Gesicht auf dem Max-Josefs-Platz steht. „Darf ich dich umarmen?“, fragt sie die Passanten. Diese reagieren verblüfft, irritiert, neugierig.

Ein älterer Herr weicht sogar erschrocken zurück. Fracesca Terranova überreicht ihm einfach lächelnd einen Sticker. „Wir brauchen vier Umarmungen pro Tag zum Überleben“, steht dort drauf. Wenn das stimmt, besteht doch bei vielen Menschen Gefahr für Leib und Seele? Francesca Terranova ist überzeugt: Berührungsmangel ist gefährlich – wenigstens für die seelische Gesundheit. Deshalb verabreicht sie in der Rosenheimer Fußgängerzone ihre ganz persönliche Medizin: Umarmungen.

„Viele nennen mich naiv – na und?“

„Damit wollen Sie doch hoffentlich nicht die Welt retten?“, fragt eine Passantin im Vorbeieilen kopfschüttelnd. „Ich weiß, viele finden, ich sei naiv“, sagt die Umarmerin. „Na und?“ Das ist für sie kein Schimpfwort: „Naiv heißt doch übersetzt: im Einklang mit sich selbst. Und das bin ich gerne.“

„Spinnerin“: Auch das bekommt sie immer wieder zu hören. Doch Francesca Terranova beruft sich bei ihrem Tun sogar auf die Hirnforschung. Bei jeder Umarmung werde das Hormon Oxytocin ausgeschüttet. Das sei gut für das Immunsystem – zum Angst- und Stressabbau. Nicht nur der Umarmte erhalte neue Energie, auch der Umarmende. Selbst derjenige, der diese Geste beobachte, profitiere davon, ist sie überzeugt.

Wenn also US-Präsident Donald Trump seinen französischen Kollegen herzt und drückt, retten sie den Weltfrieden? „Berührungsmangel ist die Wurzel der Gewalt,“, ist die Umarmerin überzeugt. Doch sie weiß auch, dass solche Gesten des sich Näherkommens nur dann ihre Wirkung entfalten, „wenn sie aufrichtig gemeint sind“. So wie bei einem kleinen Kind, wenn es sich in die schützenden Arme der Mutter schmiegt, bei der Freundin, die zur Begrüßung eine innige Umarmung spendet.

Dies kann Francesca Terranova auch bei wildfremden Menschen. Sie tut es immer und überall – beim Einkaufen, beim Arbeitsessen mit Geschäftsfreunden ihres Mannes, auf Straßen und Plätzen, spontan oder gezielt in Aktionen, auf Einladung im Seniorenheim oder bei Lesungen ihrer Bücher. Sie umarmt Bettler ebenso wie Anzugträger. Weltweit tun es ihr Umarmer nach – unter dem Namen „Free Hugs-Kampagne“ wird überall auf dem Globus umarmt. Francesca Terranova macht dies jedoch schon seit über 20 Jahren – viel länger als der Gründer der Bewegung, der Australier Juan Mann, der 2004 zum ersten Mal im öffentlichen Raum die Arme ausbreitete.

„Für mich gibt es keine fremden Menschen“, sagt sie. Schon als Kind habe sie so empfunden, Trennendes nicht wahrgenommen oder akzeptieren können und wollen. „Pflege der Verbundenheit in einer Trennungsgesellschaft“, nennt die 50-Jährige dies.

„Ich liebe Menschen“, versucht sie einen weiteren Erklärungsansatz. Viele seien heute sehr verkopft oder würden innige Berührungen nur als Kinder oder später in der Sexualität erleben. Das sei zu wenig, findet Francesca Terranova. Deshalb fasst sie sich immer wieder ein Herz: „Darf ich Sie umarmen?“ Erstaunlich oft gibt es ein Ja. Wenn nicht, sagt sie: „Dann fühlen Sie sich umarmt.“ Spätestens dann wird Francesca Terranova fast immer mit einem Lächeln belohnt.

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