Das Herz besiegt das Hirn

von Redaktion

Nach vielen Rückschlägen wagt Andrea Petkovic den vielleicht letzten Neuanfang – und bezwingt zum Auftakt die Favoritin Kvitova

von doris henkel

Melbourne – Erster Matchball – vergeben. Zweiter Matchball – vergeben. Dritter Matchball – vergeben. Es wäre ganz leicht gewesen, in diesen Momenten die Übersicht zu verlieren. Immer wieder war Andrea Petkovic in genau solchen Situationen gescheitert, manchmal war sie hinterher so sauer auf sich, dass sie kaum noch sprechen konnte, und manchmal war sie so enttäuscht, dass ihr die Tränen in die Augen schossen, wenn sie erklären sollte, warum sie wieder verloren hatte.

Doch an diesem Abend auf Court Nummer 2 zwang sie sich, die bösen Geister auf Distanz zu halten. Sich nicht von ihnen einflüstern zu lassen: Es ist ja doch alles wieder gegen dich. Sondern so kühl wie möglich den Gedanken anzunehmen: Hier ist jetzt die Herausforderung, die du haben wolltest. Spiel aggressiv und zieh durch.

Und genau das tat sie dann. Die Schatten auf dem Platz wurden immer länger, und Petkovic konnte sehen, wie Petra Kvitova auf der anderen Seite des Netzes immer mehr Risiko spielte, weil sie nicht mehr die Kraft hatte. Mit einem Doppelfehler beim vierten Matchball verlor die favorisierte Tschechin dieses Spiel, das fast drei Stunden dauerte und die Fans in der extrem spannenden Endphase von den Sitzen riss (6:3, 4:6, 10:8). Als es vorbei war, stellte Petkovic verblüfft fest, dass sie nichts spürte. Sie fühlte sich stumpf und leer und sie ließ nur deshalb nach dem letzten Matchball einen Schrei los, weil sie dachte, irgendwas müsse sie doch tun.

Dieser erste Sieg bei einem Grand Slam-Turnier seit einem Jahr fiel nicht vom Himmel. In einer langen Auszeit nach dem Ende der Saison 2017, in der sie wieder mal New York und ihre Lieblingsläden im East Village besuchte, Mexiko bereiste und im Auftrag eines Magazins eine Woche lang mit einer Band durch Arizona und New Mexico tourte, um darüber zu schreiben, gewann sie Abstand zu den Ereignissen und Enttäuschungen des vergangenen Jahres. Es sei eine tolle Zeit gewesen und die längste Auszeit ihrer Karriere, sagt sie, und manche ihrer Freunde hätten sich erkundigt, ob sie überhaupt gedenke, weiter Tennis zu spielen. Doch als sie zum Schluss noch mal ein paar Tage in New York verbrachte, da spürte sie schon, dass sie das Training kaum mehr erwarten konnte. Sie wälzte Gedanken – darin war sie schon immer ziemlich gut –, und am Ende stand der Entschluss: Okay, du machst das jetzt noch mal ein Jahr lang richtig. In jedem Spiel hundert Prozent geben und nicht zuviel nachdenken, wenn es nicht läuft.

Um ihre Knie zu schonen, stellte sie das Training um. Viele Stabilitätsübungen und Fitness-Einheiten, intensives Tennis, aber keine Läufe mehr. Damit ging es ihr deutlich besser. Die Frage war nur, ob sie fit genug sein würde. Früh flog sie nach Australien, in Brisbane musste sie in der Qualifikation gegen eine Russin von Weltranglistenplatz 176 spielen und verlor. „Ich hab so schlecht gespielt und mich nicht gut benommen. Aber zum Glück gehörte das noch zum alten Jahr.“

Silvester saß sie mit einem Glas billigen Rotwein und einem Stück Schokolade in der letzten halben Stunde des Jahres ganz allein und machte sich Gedanken über ihre Karriere. Wenn du das jetzt noch mal versuchst, sagte sie sich, dann aber richtig, und du kannst nicht ständig alles in Frage stellen. In dieser halben Stunde schloss sie Frieden mit sich selbst.

Gegen Kvitova hätte sie ohne diesen Frieden nicht gewonnen. „Es fällt mir schwer, mein Hirn ausschalten, weil mein Hirn stärker ist als mein Herz. Aber so wie heute will ich mich in jedem Training und in jedem Match verhalten. Und wenn ich das durchhalte, dann kann ich noch mal gefährlich werden.“ Ob dieser Tag eine Momentaufnahme oder das erste Bild einer neuen Serie ist, wird man sehen.

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