Die Jahrhundertentscheidung

von Redaktion

Jupp Heynckes hinterlässt beim FC Bayern Leitplanken, an denen sich auch Niko Kovac orientieren sollte

VON ANDREAS WERNER UND HANNA RAIF

München – Jupp Heynckes war sauer, das hat Uli Hoeneß damals schnell gemerkt. Als der Präsident im Dezember während eines Adventsbesuchs bei einem Fanclub in einem Moment der Euphorie abstimmen ließ, ob der Trainer bleiben solle (das Votum fiel in typisch bayerischer Tradition aus, quasi ohne Opposition), hatte der Coach alles in den falschen Hals bekommen. Hoeneß wollte ihm zeigen, wie groß die Liebe an der Basis ist. Heynckes empfand es als Druckaufbau. „Das hat ihm gestunken“, erinnert sich Hoeneß nur zu gut. Direkt gesagt hatte es ihm der Trainer damals aber nicht. „Ich habe es über Hasan Salihamidzic erfahren. ,Der Alte hat mal wieder einen Bock geschossen’, hat Jupp zu ihm gesagt.“

Zwischen Tegernsee, Tyrrhenischem Meer und Titicacasee gibt es Wenige, die Uli Hoeneß „den Alten“ nennen dürfen, doch der Präsident ist Heynckes deshalb nicht böse, im Gegenteil, er lacht. „Es ist schon interessant, dass ein 73-Jähriger einen 66-Jährigen als ,Alten’ bezeichnet“, witzelt er. „Ich bin bei Jupp völlig schmerzfrei. Er darf sich bei mir alles erlauben. Alles.“

Rummenigge fragte sich: Hatte Jupp irgendwo gearbeitet?

Das heißt: Eine Einschränkung gibt es doch. Nein sagen, das darf Jupp eigentlich nicht. Er hatte „anfangs unheimliche Probleme damit“, gibt Hoeneß heute zu, dass er nicht dazu bereit war, noch ein Jahr beim FC Bayern weiterzumachen. „Aber jetzt, mit etwas Distanz und wo ich die Entscheidung auch für mich selber hingenommen habe, muss ich sagen, es ist alles prima gelaufen. Ich habe mich mit der Situation angefreundet und kann damit leben.“

Er war ihm erst „schon ein bisschen böse. Ich hatte eigentlich nicht gedacht, dass er nicht weitermacht“, sagt Hoeneß. „Aber wir haben einen Umbruch, und nächstes Jahr wäre die Situation ja wieder die gleiche gewesen. Ich finde, wir haben eine überragende Saison gespielt, und wenn wir den Pokal holen, ist das ein würdiger Abschluss seiner großen Karriere.“

Das größte Drama wäre es gewesen, wenn die Rückholaktion schiefgegangen wäre. Es gab ja schon Bedenken im Oktober. Rummenigge erinnert sich, wie sie nach der Entlassung von Carlo Ancelotti auf den Bauernhof im Schwalmtal fuhren: „Ich hatte Jupp eine Zeit lang nicht gesehen und war neugierig, in welcher Verfassung er sich präsentiert.“ Heynckes war fit und voll im Thema, „ich habe ihn gefragt: ,Hast du irgendwo als Trainer gearbeitet, und wir haben das nur nicht mitbekommen?’“ Hoeneß nahm die Kommentare in den Zeitungen zur Kenntnis: „Sie waren ja auch einer der Ungläubigen“, feixt er heute während des Rückblicks, „aber Jupp ist nicht nur wegen des sportlichen Erfolgs, sondern weil er den Verein so befriedet hat, nicht hoch genug zu loben. Ihn zurückzuholen, war eine Jahrhundertentscheidung.“

Unter Ancelotti war alles aus dem Lot gelaufen; vor allem im Stab herrschte wenig bis gar keine Harmonie, alles zersplittert, zerfasert, wie es so gar nicht sein soll. Sowas überträgt sich auf den Platz. Heynckes renkte alles wieder ein. Mit seiner Art, und auch zusammen mit Salihamidzic, der zuvor wegen des Umfelds von Ancelotti kaum bis keine Entfaltungschancen hatte.

Heynckes habe die ganze Lizenzspielerabteilung belebt und wieder neu ausgerichtet, heißt es hinter den Kulissen an der Säbener Straße. „Niko Kovac übernimmt einen Verein, der völlig in sich ruht“, sagt Hoeneß. Der Nachfolger soll seinen eigenen Weg gehen, empfiehlt der Präsident, gibt ihm aber auch den Rat, sich ein bisschen an den von Heynckes hinterlassenen Leitplanken zu orientieren.

Beim FC Bayern ist es den Bossen im Grund ziemlich wurscht, ob ein Trainer die Mittelfeldraute linksrum oder rechtsrum spielen lässt – in ihren Augen ist der Schlüssel, dass sich die Stars wohlfühlen. „Wenn sich beim FC Bayern alle wohlfühlen, haben wir auch Erfolg“, so Hoeneß. „Jupp hat das brillant umgesetzt. Und es ist nun die Aufgabe von Niko, das fortzuführen.“ Von der Mannschaft bekam Heynckes zum Abschied eine Collage. Unter die Bilder setzten die Spieler einen Spruch, jeder auf seine Weise. Thomas Müller schoss den Vogel ab: „Wir sehen uns im Oktober.“ Da muss selbst Rummenigge lachen, so frech, so unverhohlen halten Fußballer ihren Chefs selten den Spiegel vor. Dass sie Heynckes aber noch einmal reaktivieren, sei ausgeschlossen.

Nachdem sich Hoeneß nun mit dem Abschied abgefunden hat, wünscht er ihm gute Erholung, denn er erwartet ihn später wieder oft als Gast am Tegernsee, „um die Gespräche, die ein dreiviertel Jahr ausgefallen sind, nachzuholen“. Das Verrückte ihrer Freundschaft sei, dass sie in den Phasen der Zusammenarbeit aussetzt. Gleich bei der Rückkehr richtete Susi Hoeneß das Gästezimmer her, Heynckes hätte jederzeit vorbeischauen können, sogar mitten in der Nacht, doch er kam nur einmal zu Besuch. „Er ist hochprofessionell, lebt in seiner Käseglocke – auch darum habe ich ja die Aktion im Fanclub veranstaltet, um ihm mal die Gefühle der Leute zu vermitteln“, so Hoeneß.

Intern hat Heynckes hingegen selbst viel Gefühl für die Leute. Es war eine der Bedingungen seiner Rückkehr, dass auch Hoeneß und Rummenigge wieder ein großes Stück näher zusammen rücken. Salihamidzic hat das Credo des 73-Jährigen übernommen, er wird weiterführen, was Heynckes dem Führungsduo zum Einstand sagte: „Nur wenn ihr zusammensteht, kann dieser Club funktionieren.“

„Schreiben Sie eine schöne Geschichte – er hat es verdient“

Hoeneß zählt seine Freunde nicht, er weiß bloß, dass er nach seiner Haftstrafe ein paar verloren und ein paar neue gewonnen hat. Verlässlichkeit ist in seinen Augen der wichtigste Klebstoff für Kumpels. Dass das Kinoplakat „Ziemlich beste Freunde“ nach der Rückholaktion auf die beiden umgestaltet wurde, lässt ihn schmunzeln. Das Wort „ziemlich“ dürfe man da ruhig streichen, sagt er, und Parallelen zu dem Film, den er schätzt, hält er für nicht unpassend. Auf der Leinwand finden zwei unterschiedliche Typen zueinander, sie entdecken, dass sie sich brauchen, und so sei es zum Teil auch bei ihnen. „Das ist ja keine geborene Freundschaft gewesen, sie ist gewachsen.“ Als er Heynckes im Herbst 1991 auf Druck des damaligen Präsidiums entlassen musste, hatten sich die Bande endgültig verfestigt, in einer Nacht in Hoeneß’ Haus in Ottobrunn. „Wir haben damals beide geheult wie die Schlosshunde.“

Als Hoeneß in der Haftanstalt Geburtstag hatte, schickte Heynckes ein Video, 45 Minuten, selbst produziert. Franz Beckenbauer singt mit Familie ein Ständchen, etliche Weggefährten kommen zu Wort. „Es ist das Unglaublichste, was ich je gesehen habe“, erzählt Hoeneß. „Glauben Sie mir: einen Menschen wie Jupp finden Sie nur sehr, sehr selten im Leben“.

Zum Abschuss hat der Präsident noch eine kleine Bitte: „Schreiben Sie eine schöne Geschichte über Jupp. Eine, bei der er super wegkommt. Er hat es sich verdient. Der Grundton muss sein“, kurz sucht Hoeneß ein Wort, dann hat er es. „Der Grundton muss sein: Weltklasse.“

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