München – Nicht dabei ist David Luiz. Der Innenverteidiger mit der unverwechselbaren Wuschelfrisur ist einer der bekanntesten Spieler Brasiliens, aber momentan ist sein Ruhm eher zweifelhafter Natur. In diesen Wochen ist er einer der weltweit prominentesten WM-Zuschauer. Im brasilianischen Kader war kein Platz für ihn.
Das ist ein tiefer Fall, wenn man bedenkt, dass der Mann vom FC Chelsea vor vier Jahren seine Mannschaft noch als Kapitän ins Halbfinale gegen Deutschland führte. Dieses Spiel ist nicht nur wegen des grotesken Ergebnisses unvergessen (1:7), sondern auch wegen der grenzwertigen Verfassung der Gastgeber. Wie sehr die Brasilianer unter Strom standen, zeigte niemand deutlicher als David Luiz. Als die Mannschaft vor dem Anpfiff die Hymne mitsang, tat er das mit einer Inbrunst und Besessenheit, als wolle er jeden auffressen, der ihm auf den Weg ins Finale in die Quere kommt.
Seine Gelbe Karte kann teuer werden
Brasiliens aktuelle WM-Besetzung galt bislang als gefestigter und titelverdächtiger als der 2014er-Jahrgang, doch das war vor Sonntag. Die Vorstellung ihres unumstrittenen Stars Neymar weckte ungute Erinnerungen an Luiz und das 1:7. Auch der teuerste Fußballer der Welt ist augenscheinlich überfordert damit, den Druck und die Anspannung eines solchen Turnieres in positive Energie zu verwandeln.
Beim 2:0 gegen Costa Rica verstrickte sich der kapriziöse Neymar in eine Privatfehde mit dem Schiedsrichter, den er bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu beeinflussen versuchte. Er legte eine arg plumpe Schwalbe hin, kassierte eine Gelbe Karte, die in diesem Turnier noch teuer werden kann, und brach nach dem Schlusspfiff in Tränen aus. Selbst für jemanden, der große Auftritte und Theatralik zu schätzen weiß, war sehr viel Drama im Spiel.
Dass der Druck auf Neymar (26) enorm ist, hat man auch vorher schon gewusst. Brasilien will sich für das traumatische Heimturnier rehabilitieren und braucht dazu dringend seinen Star, der vor vier Jahren das Deutschland- Spiel wegen einer Rückenverletzung verpasste. Für die aktuelle WM ist er auf den letzten Drücker fit geworden. Die monatelange Krisenberichterstattung vom Krankenbett artete irgendwann zu einer Seifenoper aus, die dem Hauptdarsteller zu gefallen schien, dem Rest der Welt aber viel Toleranz und Nervenstärke abverlangte.
Bis Sonntag dachte man, der Mann mit dem 222-Millionen-Euro-Preisschild genieße es, alle Aufmerksamkeit auf sich zu bündeln, doch gegen Costa Rica kamen ernsthafte Zweifel auf. „Es ist nicht leicht, das ganze Gewicht allein zu schultern“, sagte sein Mitspieler, der frühere Bayern-Profi Douglas Costa. Nationaltrainer Tite erinnerte: „Er ist ein menschliches Wesen.“
Wie fehlbar und flatterhaft auch ein Neymar ist, zeigte sich nicht nur bei seiner peinlichen Schwalbe, die ihm einen Elfmeter eingebracht hätte, wenn nicht der Videoassistent eingegriffen wäre. Seine endlosen Diskussionen mit Schiedsrichter Björn Kuipers, die selbst zur Pause im Kabinengang nicht aufhörten, waren anfangs kurios, später irritierend und am Ende regelrecht verstörend. Irgendwann bedeutete der Niederländer Neymar mit eindeutiger Geste, er möge nicht mehr so viel quatschen und sich lieber aufs Fußballspielen konzentrieren. Das hielt den Spieler aber nicht davon ab, sich so vehement über einen Pfiff zu echauffieren, dass er verwarnt wurde und nun im Fall einer weiteren Gelben Karte ein Spiel pausieren muss.
Selbst in der Heimat regt sich Unmut. „Neymar ist ein Nervenbündel“, befand die Zeitung „Estado de Sao Paulo“. Dabei geht das Turnier gerade erst richtig los, und die heutige Aufgabe gegen die als rustikal bekannten Serben dürfte erheblich ungemütlicher werden als gegen die Costa Ricaner, die in Wahrheit gar nicht so feste hinlangten, wie Neymar immer wieder suggerierte. Souverän wirkt es nicht, mit welchen Mitteln er seinem Team den Erfolg zu bringen versuchte. Wenn es um Führungsqualitäten im klassischen Sinne geht, steht Neymar derzeit klar im Schatten von Landsmann Philippe Coutinho.
Während der Mann vom FC Barcelona aber nur mit sportlichen Mitteln auffällt, dürfte sein Kompagnon mit der Nummer 10 auch heute Abend wieder alle Register der Egozentrik ziehen. An guten Tagen – und davon hat er viele – agiert Neymar derart unwiderstehlich, dass er sein Team fast im Alleingang zum Sieg treibt. Seit Sonntag ist man sich aber nicht mehr so sicher, dass er und die Brasilianer in Russland noch viele gute Tage erleben.