Dass ich eine Fußball-Weltmeisterschaft wieder so entspannt als Fan verfolgen kann wie jetzt als Ruheständler, ist 44 Jahre her. Es war – die Älteren werden sich noch erinnern – der Heim-Triumph der deutschen Mannschaft mit Gerd Müllers unvergleichlichem Drehschuss zum 2:1 im Münchner Finale gegen die Holländer.
Vier Jahre später war für mich diesbezüglich Schluss mit lustig. WM-Zeit bedeutete von da ab: Verstärktes Arbeitsaufkommen in der Sportredaktion dieser Zeitung, absolute Urlaubssperre, vermehrte Dienste am Abend, manches Mal bis weit nach Mitternacht. Was früher pures Fan-Vergnügen war, hatte sich zum Stress-Beobachten gewandelt. Wie etwa schon 1978 bei der WM in Argentinien. Sie endete ja aus deutscher Sicht mit der bis heute viel zitierten 2:3-Schmach von Cordoba gegen die Österreicher (inklusive Edi Fingers schmerzendem „I werd’ narrisch“-Kommentar). Und sie sorgte für entsprechende Stimmung zuhause wie im deutschen Lager. Der damalige Sportchef dieser Zeitung, der vergangene Woche verstorbene Rolf Hofmann, berichtete fassungslos und seine Fußballwelt nicht mehr verstehend über das Szenario in der Unterkunft der DFB-Elf mit der mir unvergesslich in Erinnerung gebliebenen Überschrift: „Der tote Hund von Ascochinga“.
Nun bin ich als Ruheständler zu weit entfernt, um gesichert zu wissen, ob sich im Wald von Watutinki erneut unglückbringende Hunde herumtreiben. Aber am vergangenen Samstag habe ich mich in der Schlussphase des Schweden-Spiels doch nachdrücklich an den blamablen Abgang der 78-er Mannschaft erinnert. Wobei anzumerken ist: Das späte Kroos-Tor war der erste Moment bei der aktuellen WM, der meine Emotionen fühlbar wecken konnte. Bis dahin war Entspannung erste Rentner-Fan-Pflicht. Alleine die zwei deutschen Spiele gingen für mich über die vollen 90 Fernseh-Minuten. Der Rest: Nur fragmentartig verfolgt, erstaunt festgestellt, dass Panama neben seinem weltbekannten Kanal über eine für die WM-Endrunde qualifizierte Nationalmannschaft verfügt, oder dass die Ricola-Erfinder aus der Schweiz sich auf Platz sechs (!) der Weltrangliste vorgearbeitet haben.
Jetzt steht also heute der dritte Einsatz über die vollen 90 Minuten an. In mir bricht sich der in Fußball-Fragen stets dominierende Optimismus Bahn, der den Südkoreanern im besten Fall eine gerade noch Gesichts wahrende 0:3-Niederlage gegen den glänzend aufspielenden Titelverteidiger zugesteht. Dazu habe ich von meinen Ex-Kollegen mit großem Erstaunen (im üblichen Service-Kasten „Deutschland kommt ins Achtelfinale, wenn. . .“) schwarz auf weiß erfahren, dass bei einer gleichzeitigen 0:1-Niederlage der deutschen wie der schwedischen Mannschaft im letzten Gruppenspiel das WM-Überleben nicht – wie gewohnt – nach dem direkten Vergleich, sondern nach der Fairplay-Wertung entschieden wird. Da kommt einem doch gleich Tollpatsch Boateng in den Sinn, der mit seiner gelb-roten Karte die Sache quasi schon vorab zu unseren Ungunsten entschieden hätte.
Aber mit derartigen Extrem-Eventualitäten sollen sich die Beobachter-Profis in der Redaktion auseinandersetzen. Der Ruheständler denkt an nichts Böses, begibt sich heute Nachmittag kurz vor Vier in seinen bequemen Fernsehsessel und lässt sich beim Genuss eines alkoholfreien Weißbieres vom kommenden Weltmeister was vorspielen. Und sollte es im weiteren Turnierverlauf – wider Erwarten – nichts werden mit Jogis Titelverteidigungs-Träumen, bleibt mir ein Trost: Schon am Final-Wochenende der WM startet die Fußball-Landesliga in die neue Saison. Der heimische VfB Hallbergmoos kann sich dann meiner vollen emotionalen Aufmerksamkeit von Anfang an sicher sein.