Minijob-Paradies für Grüßgott-Larissa

von Redaktion

Wer die Sowjetunion bereiste, lernte Berufe kennen, die es im Westen nicht gab. Legendär: die Etagenfrau im Hotel. Keine Chance, jemanden mit aufs Zimmer zu nehmen, der dort nicht gemeldet war. Der Schlüssel musste beim Verlassen des Flures abgegeben und bei Rückkehr erbeten werden. Voraussetzung für den Beruf der Etagenfrau war ein tendenziell missbilligendes Wesen, die Ausstrahlung von Autorität, ein gewisses Alter, eine gewisse Körperfülle.

Andere klassische UdSSR-Jobs: Aufpasser am Fuße der Metro-Rolltreppe. Es ist nicht bekannt, dass in der langen Geschichte der U-Bahnen jemals ein Jugendlicher einen Blödsinn veranstaltet hätte.

Und diese Jobs sind heute also ausgestorben? Mitnichten. Die etwa einen knappen Quadratmeter großen Verschläge an der Rolltreppe sind noch immer besetzt – der Fortschritt liegt vielleicht darin, dass, wer dort sitzt, nicht mehr ganz so maskenhaft und streng schaut. Die Schlüsselwächterin im Hotel? Nun, in Sotschi und Kasan bekamen wir elektronische Zimmerkarten. Es gab keine Etagenzimmerkartenfrau.

Während der WM wurden aber neue Minijobs geschaffen. Die FIFA (und überhaupt Sportdachverbände) neigt dazu, eher zu viel als zu wenig Personal zu beschäftigen bei großen Veranstaltungen. Man denke nur an die vielen Menschen, die bei der Champions League eine Minute lang die Mittelkreisplane mit dem Ball und den Sternen schütteln. Eine Organisation wie die FIFA passt gut zur russischen Beschäftigungskultur.

Es gibt bei der WM Abklatschpersonal. Junge Leute, die den Stadionbesuchern eine Schaumstoffhand zur freudigen Berührung entgegenstrecken. Patsch! Yeah! Im Pressezentrum treffen wir auf Damen und Herren, die eigentlich nur vor dem Stadiontreppenhaus stehen und uns unablässig begrüßen: Hi! Hello! Grüßgott-Larissas und -Igors. Eine herausragende Position nehmen – weil vor dem Stadion auf Tennisschiedsrichterstühlen thronend – Mitarbeiter ein, die per Megafon die ankommenden Besucher willkommen heißen, zum Beispiel mit einem euphorisch-triumphierenden „Hello Poland! Hello Senegal!“ Das macht einen eher amerikanischen Eindruck. Die Texte werden aber vom Blatt gelesen. Also doch sowjetisch.

Unser Stammquartier in Moskau, ein 13-stöckiges Haus mit etwa vierzig Wohnungen, pflegt noch die gute alte Sitte, eine Portiersfrau zu beschäftigen. Zwei ältere Damen wechseln sich ab, wer Nachtschicht hat, schläft dann auch im Kämmerchen. Manchmal lassen sie die Tür aufspringen, bevor ich den Chip an die Schließanlage gehalten habe. Ich spüre ihre Macht und ihre Gnade. Günter Klein

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