Montagabend, Finale in der spannenden WM-Gruppe B. Ich stehe in der Küche, um mir einen Tee für die heiße Schlussphase zu brühen, da höre ich meinen Filius aus dem Wintergarten rufen: „Elfmeter für Portugal!“ Normalerweise wäre das der Startschuss für einen Sprint zum Fernseher gewesen, diesmal jedoch: Der Tee braucht noch eine Minute. Ich nehme mir diese Zeit und begnüge mich dann mit der Zeitlupe, die Ronaldos Unglücksmiene nach seinem Fehlschuss einfängt.
Was ist da los, frage ich mich kurz darauf. Nicht mit Ronaldo, der halt auch nur ein Mensch ist. Was ist mit mir los, dass ich einen korrekt gezogenen Tee über die Live-Ansicht einer womöglich spielentscheidenden Szene stelle? Relativ schnell kommt mir eine Erklärung in den Sinn. Die Diagnose lautet: Elfmeter-Verdruss. Es liegt an dieser Überdosis, die uns die WM in Russland beschert. Ronaldos verfehlter Versuch folgte dem insgesamt 19. Pfiff bei diesem Turnier – ein Allzeitrekord. Zu viele Tore fallen vom Punkt und entwerten aus meiner Sicht Kunstschüsse wie den herrlichen Außenrist-Schlenzer von Quaresma.
Ich frage mich: Sind die Abwehrspieler ungeschickter geworden, die Stürmer trickreicher, die Zweikämpfe im Strafraum verbissener? Dreimal nein lautet die Antwort, die ich mir selber gebe und komme zum wenig überraschenden Schluss: Es muss am Videobeweis liegen. Es wird mehr aufgedeckt – und im Wissen, dass mehr aufgedeckt wird, werden mehr Fehler gemacht.
Ist ja eigentlich im Sinne des Fairplay, wenn der Einsatz hochauflösender Bilder für Gerechtigkeit sorgt. Trotzdem stört mich diese Elfmeterflut. Ein Tor aus dem Spiel ist nach meinem Verständnis eine Leistung, ein Elfmeter ist Nervensache und Lotterie. Nichts, das man gleichstellen sollte. Ich war da schon immer konsequent: Beim ersten Hobbyturnier, das ich ausgerichtet habe, gab es auch in der K.o.-Runde keine Elfmeter, sondern Penaltys. Andere sind noch rigoroser: Ein befreundetes Team aus Hohenbrunn bittet bei Gleichstand zum Staffelsackhüpfen.
Ich schweife ab. Zwischen zwei Schluck Tee frage ich mich, ob der Videobeweis nicht nur aktuelle Spiele auf den Kopf stellt, sondern auch vergangene. Wie wäre wohl das WM-Finale 2014 ausgegangen, wenn ein scharfer Videorichter Neuers Harakiri-Rettungstat an der Strafraumgrenze einer intensiveren Betrachtung unterzogen hätte? Und darf man sich im Rückblick noch über den WM-Titel 1990 freuen, als die deutschen Fans Schlitzohr Völler und den nervenstarken Strafstrafstoßschützen Brehme feierten? Vor meinem geistigen Auge verblasst ein Weltmeisterstern nach dem anderen – und wahrscheinlich würde auch Hölzenbeins Faller 1974, im WM-Finale gegen Holland, nicht jeder Überprüfung standhalten.
Hilfe, denke ich, die Videotechnik beschädigt meine persönlichsten WM-Erinnerungen. Und hat man sich erst mal reingesteigert, nicht nur die. Als 1860-Reporter frage ich mich: Wären die Löwen in der Relegation gegen Saarbrücken auch ohne Elfmeter zurückgekommen? Immerhin: Den Abstieg 2004 hätte auch ein Videoschiedsrichter nicht verhindern können (Kioyo … ). Andererseits, sinniere ich: Mit moderner Technik wäre Deutschland vielleicht schon 1966 Weltmeister geworden. Es ist ein Pfiff, der mich nach einem langen Dribbling durch die Fußballgeschichte aus den Gedanken reißt. Elfmeter für Iran – nach Videobeweis. Nummer 20 bei dieser WM, die fast kein Fußballturnier mehr ist. Sondern: das längste Elfmeterschießen der Welt. uli kellner