München – Vor 21 Jahren hat der Schweizer Urs Stöcker in seiner Heimat eine wissenschaftliche Arbeit für einen Nachwuchswettbewerb eingereicht: Die Aerosoldichte der letzten 100 Jahre in der mittleren Atmosphäre. Den Juroren gefiel, was er zusammengetragen hatte, sie bewerteten die Arbeit mit „sehr gut“. Es war kein Glückstreffer.
Später studierte Stöcker an der ETH, der Elite-Universität in Zürich, die man auf der ganzen Welt schätzt. Er erhielt ein Diplom als Quantenphysiker, doktorierte in der Biomechanik, seinen ersten Beruf hätte er sich mit diesem Lebenslauf aussuchen können. Er fing als Softwareentwickler an, löste Probleme und entwickelte Projekte für große Kunden, etwa die Telekommunikationsfirma Swisscom oder die Schweizer Post. Ein ziemlich guter Einstieg.
Vor 16 Monaten aber hat sich Stöcker dann einem neuen Arbeitgeber angeschlossen, der nicht ganz in die Reihe passt: dem Deutschen Alpenverein (DAV). Seitdem verbringt der Mann, der unheimlich viel über Quantenphysik, Biomechanik und Softwareentwicklung weiß, seine Zeit meistens in der Boulderworld am Münchner Ostbahnhof, um den talentiertesten DAV-Athleten beizubringen, wie sie eine Wand besonders schnell hochklettern können.
Vor ein paar Tagen erst hat Stöcker, 42, in einer anderen Kletterhalle, in Freimann, ausführlich erklärt, warum er sich im April 2017 für den Job als Bundestrainer entschieden hat. Es hat mit seiner Herkunft zu tun: Stöcker ist in Chur aufgewachsen, der Hauptstadt Graubündens, die manche das „Tor zu den Alpenpässen“ nennen. Er verliebte sich als Kind ins Bergsteigen, probierte sich mit 14 im Klettern und hat bis heute nicht aufgehört, was er eigentlich nicht erzählen muss, weil es seine Oberarme schon verraten.
Die Entscheidung für den DAV hat vor allem aber auch mit seiner Haltung zu tun: „Ich habe von den Athleten immer verlangt, alles auf die Karte Sport zu setzen“, sagt Stöcker, der in seiner Freizeit zehn Jahre als Trainer für den Schweizer Alpen-Club gearbeitet hat. „Als ich dann die Möglichkeit hatte, musste ich mit gutem Beispiel vorangehen.“ Auch, wenn’s „finanziell ein bisschen wehgetan hat“.
Urs Stöcker ist ein ruhiger Mann, er überlegt, bevor er antwortet. Wenn er etwas betonen will, setzt er das Wort massiv davor. Er sagt zum Beispiel: „Die Dichte im Profiklettern ist massiv viel besser. Die zweite Garde hat massiv aufgeschlossen.“
Als der DAV mit ihm anbandelte, musste Stöcker auch überlegen. Schon sein Lebenslauf offenbart, wie ehrgeizig er ist. Doch der Klettersport verändert sich gerade. In zwei Jahren darf er in Tokio das erste Mal die olympische Bühne erklimmen – mit einem neuen Dreikampf (Speed, Bouldern, Lead), weshalb viele Nationen ihre Kletterabteilungen gerade aufrüsten. Ab 2019 werden die ersten Plätze für Tokio vergeben, insgesamt werden nur 20 Männer und 20 Frauen starten dürfen. Der DAV hat bereits ein Ziel formuliert: Zwei Männer, eine Frau. Mit dieser olympischen Mission hat der Verband dann auch Stöcker gelockt. Einen Wissenschaftler an der Wand, der sagt: „Ein Trainer muss Trends erkennen oder gar selbst mitprägen.“
Die deutschen Spitzenkletterer scheint er überzeugt zu haben. Ein paar sind nach München gezogen, um mit ihm zu trainieren. Alexander Averdunk, ein Boulder-Spezialist aus Markt Schwaben, findet, Stöcker habe „sehr viel Ahnung von Trainingslehre“ und gebe sich Mühe, „immer auf dem neuesten Stand zu sein“. Dieser meint nur: „Ich bin noch immer in dem Wissenschaftsding drin.“ Akademiker, die im Kletterbereich forschen, ziehen ihn häufig als Experten heran. „Dadurch bekomme ich viel mit, ich muss gar nicht so viel lesen.“
Mit den ersten 16 Monaten war Stöcker nur manchmal zufrieden. Im Training stimmte die Leistung, im Wettkampf nicht immer. Sein Vertrag mit dem DAV läuft nun aus, soll aber um zwei Jahre verlängert werden. „Außer die WM (ab dem 6. September in Innsbruck; d. Red.) geht massiv in die Hose.“ Davon geht Stöcker aber nicht aus. Er glaubt, sein Glück im Klettern gefunden zu haben. Das deutete sich übrigens schon früh an: Ein Jahr bevor er seine Arbeit über die Aerosoldichte einreichte, gewann er einen anderen Titel: Bündner Klettermeister. christopher meltzer